Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Fuß der Säulen, gebettet in heruntergetretene Moospolster. Ein strahlend blauer Himmel mit windzerrissenen Wolkenstreifen war durch das Loch in der Kuppel und zwischen den Säulenbögen auf allen Seiten zu sehen, als ob die Halle auf dem Olymp selber stände. Ein paar Sims, die meisten weit in der simulierten Ferne, schlenderten über die weitläufige grasbewachsene Fläche im Innern des Steinrunds.
Ihr behagte der Gedanke nicht, den äußeren Rand zu verlassen und in den offenen Raum zu treten, aber wenn die Direktion des Clubs sie hierher beordert hatte, dann war es egal, ob sie unauffällig zu sein versuchte oder nicht. Sie begab sich weiter zur Mitte und war, als sie sich umblickte, von der Vollständigkeit der Ausführung beeindruckt. Die Steine des wuchtigen Prunkbaus wirkten überzeugend alt, die Oberflächen waren von Rissen durchzogen, die Säulen von Grün umgeben und überwuchert. Kaninchen und andere Kleintiere streiften durch das hügelige Gelände, und ein zwitscherndes Vogelpaar baute sich auf einem der Bruchstücke der eingestürzten Kuppel ein Nest.
»Herr Babutu?«
Sie fuhr herum. »Wer bist du?«
Vor ihr stand ein großer, hohlwangiger Mann, den sein ausgebeulter dunkler Anzug massiger erscheinen ließ, als er war. Er hatte einen hohen, abgestoßenen schwarzen Zylinder auf; ein gestreifter Schal hing ihm locker um den langen Hals. »Ich bin Schlupf.« Er lächelte breit und tippte an den Hut. Die Schäbigkeit seiner Aufmachung stach merkwürdig von seinen flinken, lebhaften Bewegungen ab. »Dein Freund Herr Wonde schickt mich. Hast du seine Nachricht bekommen?«
Renie beäugte ihn. »Wo ist er?«
»Bei ein paar von meinen Kumpeln. Komm mit – ich bring dich hin.« Er zog etwas aus seiner Jacke. Falls er Renie bei dieser Bewegung zucken sah, ließ er es sich nicht anmerken, sondern führte statt dessen die lädierte Flöte an die Lippen und spielte ein paar pfeifende Takte einer Weise, deren Titel ihr nicht einfiel, aber die ihr ein bekanntes Kinderlied zu sein schien. Ein Loch tat sich zwischen ihnen im Gras auf. Renie sah Stufen, die hinunterführten.
»Warum ist er nicht selbst gekommen?«
Schlupf war schon bis zur Taille im Loch, so daß der obere Rand seiner schwarzen Angströhre sich ungefähr auf Renies Augenhöhe befand. »Es geht ihm nicht gut, glaub ich. Er hat mich halt gebeten, dich zu holen. Wenn du Fragen stellen würdest, sollte ich dich an ein Spiel mit Fäden erinnern.«
Das Fadenspiel. !Xabbus Lied. Renie fühlte, wie die Sorge zentnerschwer von ihr abfiel. Niemand außer dem Buschmann konnte davon etwas wissen. Schlupfs Hut tauchte soeben unter die Oberfläche. Sie stieg hinter ihm hinab.
Der Tunnel schien ein Ort aus einem Kinderbuch zu sein, die Wohnung eines sprechenden Tieres oder eines anderen zauberischen Wesens. Obwohl sie und Schlupf sich sehr bald weit unterhalb der Höhe der simulierten Erdoberfläche befanden, war die Tunnelwand von kleinen Fenstern durchbrochen, und durch jedes konnte sie eine Szene künstlich erzeugter Naturschönheit sehen – Flußlandschaften, Wiesen, windgezauste Eichen- und Buchenwälder. Hier und da kamen sie auf der Abwärtswindung der Treppe an kleine Türen, die nicht höher waren als Renies Knie, jede mit einem Türklopfer und einem winzigen Schlüsselloch. Der Drang, eine zu öffnen, war sehr stark. Der Ort glich einem wunderbaren Puppenhaus.
Aber sie konnte nicht stehenbleiben und schauen. Obwohl sie sich ständig mit einer Hand an dem geschwungenen Handlauf festhalten mußte, sprang Schlupf trotz seiner langen Beine und breiten Schultern mit raschen Schritten vor ihr die Treppe hinunter und spielte dabei weiter auf seiner Flöte. Nach wenigen Minuten war er in dem wendeligen Treppenschacht nicht mehr zu sehen. Nur das dünne Flötenecho bewies, daß er noch vor ihr war.
Die Treppe schraubte sich tiefer und tiefer. Ab und zu meinte sie, hinter den Türen hohe Stimmen zu hören, oder fiel ihr Blick auf ein helles Auge, das durch ein Schlüsselloch spähte. Einmal mußte sie den Kopf einziehen, um sich nicht an einer Wäscheleine zu erdrosseln, die mitten über die Treppe gespannt war. Winzige Kattunsachen, kein Stück größer als eine Scheibe Brot, klatschten ihr feucht ins Gesicht.
Immer tiefer ging es nach unten. Immer mehr Stufen, immer mehr Türen und das ständige Trillern von Schlupfs immer weiter entschwindender Musik – Renie merkte, wie der Märchenzauber langsam verflog. Sie sehnte sich nach einer Zigarette und
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