Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Mund und fing langsam an zu kauen.
»Iii!« sagte sie. »Das ist ungesund!«
Herr Sellars lächelte zum erstenmal. Er hatte kleine weiße Bläschen im Mundwinkel.
Er nahm ihr die Seife und das Messer aus der Hand und schnitt sich selbst weitere Stücke ab. Als er das erste hinuntergeschluckt hatte und sich eben das zweite in den Mund schieben wollte, lächelte er abermals und sagte: »Geh dich umziehen.« Seine Stimme war schwach, aber wenigstens hörte er sich wieder wie der Herr Sellars an, den sie kannte.
Als sie im Frotteebademantel zurückkam, hatte er das ganze erste Seifenstück aufgegessen und war gerade dabei, das nächste zu zerteilen.
»Vielen Dank, Christabel«, sagte er. »Zinkperoxid – wie es der Doktor verschrieben hat. Ich bin sehr beschäftigt gewesen und habe nicht genug Vitamine und Mineralstoffe bekommen.«
»Man ißt keine Seife wegen Vitaminen!« sagte sie entrüstet. Aber sie war sich nicht völlig sicher, denn seit sie zur Schule ging, bekam sie ihre Vitamine immer per Pflästerchen, und vielleicht hatten alte Leute ja überhaupt ganz andere Vitamine.
»Ich schon«, sagte der alte Mann. »Und ich war sehr krank, bis du gekommen bist.«
»Geht es dir jetzt besser?«
»Viel besser. Aber du solltest nie welche essen – Seife ist nur etwas für ganz bestimmte alte Männer.« Er wischte sich einen weißen Fleck von der Unterlippe. »Ich habe sehr, sehr hart gearbeitet, kleine Christabel. Leute getroffen, Sachen erledigt.« Das war natürlich ein Witz, das wußte sie, weil er nie irgendwo hinging und nie jemanden traf außer ihr und dem Mann, der ihm die Lebensmittel lieferte, das hatte er ihr selbst gesagt. Sein Lächeln verschwand, und seine Augen gingen zu. Nach einer Weile öffnete er sie wieder, aber er sah sehr müde aus. »Und jetzt, wo du mich gerettet hast, solltest du vielleicht besser wieder nach Hause gehen. Ich bin sicher, du mußtest irgendeine Geschichte erfinden, um zu sagen, wo du hingehst. Daß ich dich dazu bringe, deine Eltern anzulügen, ist schon schlimm genug, da muß ich dich nicht noch in Schwierigkeiten bringen, indem ich dich zu lange hier behalte.«
»Wie hast du in meiner MärchenBrille mit mir sprechen können?«
»Oh, bloß ein kleiner Trick, den ich als junger Kadett gelernt habe.« Sein Kopf wackelte ein wenig. »Ich denke, ich muß jetzt schlafen, meine Freundin. Findest du allein hinaus?«
Sie richtete sich auf. »Ich finde immer allein hinaus.«
»So ist es. So ist es.« Er hob die Hand, als wollte er ihr winken. Seine Augen gingen wieder zu.
Als Christabel sich wieder umgezogen hatte – ihre Sachen waren feucht, sie würde ein Weilchen herumspazieren müssen, bevor sie nach Hause ging –, war Herr Sellars auf seinem Stuhl eingeschlafen. Sie betrachtete ihn genau, um sich zu vergewissern, daß er nicht wieder krank war, aber er hatte jetzt einen viel rosigeren Teint als vorhin, als sie gekommen war. Sie schnitt ihm noch ein paar Stücke Seife ab für den Fall, daß er sich beim Aufwachen wieder schwach fühlte, dann legte sie ihm die Decke fest um seinen langen, dünnen Hals.
»Es ist so schwer«, sagte er plötzlich. Sie machte einen Satz zurück und dachte schon, sie hätte ihn aufgeweckt, aber seine Augen öffneten sich nicht, und seine Stimme war flüsternd und schwer zu verstehen. »Alles muß heimlich und doch vor aller Augen geschehen. Aber manchmal könnte ich verzweifeln – ich kann nur flüsternd zu ihnen sprechen, ihnen Halbwahrheiten sagen, einzelne Gedichtfetzen. Ich weiß, wie dem Orakel zumute war …«
Er murmelte noch etwas, aber sie verstand die Worte nicht. Als er still geworden war und nichts mehr sagte, tätschelte sie seine hagere Hand und ging. Eine Nebelwolke quoll hinter ihr aus der Haustür. Der Wind auf ihren nassen Sachen ließ sie erzittern.
Ein Orakel war ein Vogel, oder? Also träumte Herr Sellars von der Zeit, als er noch ein Flieger gewesen war?
Die Blätter wirbelten hinter ihr auf dem Bürgersteig her, hüpfend und purzelnd wie Zirkusakrobaten.
> Seine Arme waren gefesselt. Er wurde einen dunklen Pfad entlang gestoßen und geschoben, an dem zu beiden Seiten steile Felswände aufragten. Er wurde, das wußte er, in die Schwärze verschleppt, ins Nichts. Etwas Wichtiges lag hinter ihm, etwas, das er auf er keinen Fall verlieren wollte, aber mit jedem Moment brachten ihn die Hände, die ihn gepackt hielten, die schattenhaften Gestalten links und rechts, immer weiter davon fort.
Er versuchte sich
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