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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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einem Glas Bier.
    Sie zog abermals den Kopf ein, um unter einer niedrigen Stelle im Treppenschacht hindurchzutauchen, und als sie ihn wieder hob, hatte sich das Licht verändert. Bevor sie reagieren konnte, traf ihr Fuß plötzlich auf Widerstand, und der Stoß, den ihr das versetzte, wäre schmerzhaft gewesen, wenn ihr Körper nicht in der TH in den Gurten gehangen hätte. Sie war unten angekommen.
    Vor ihr erstreckte sich, gewissermaßen als Fortsetzung des Märchenmotivs, eine Geheimnisvolle Höhle, eine von der Art, wie sie frischfröhliche Kinder in frischfröhlichen Geschichten entdeckten. Sie war lang und niedrig, nur Gestein und weiche Erde. Die Decke war mit Würzelchen behaart, als ob die Grotte ein Hohlraum unter dem Waldboden wäre, aber winzige Lichter funkelten inmitten des Gespinstes. Der Erdboden war mit Haufen merkwürdiger Dinge bedeckt. Einige -Federn und glänzende Perlen und geschliffene Steine – sahen aus, als wären sie von Erdtieren oder Vögeln gesammelt und dann liegengelassen worden. Andere, zum Beispiel eine Grube voller Puppenglieder und -köpfe, wirkten allzu bemüht, wie ein universitäres Kunstprojekt zum Thema ›verdorbene Unschuld‹. Andere Dinge waren schlicht unverständlich, blanke Kugeln und Würfel und weniger eindeutige geometrische Figuren, die auf dem Boden herumlagen. Von einigen schien ein schwaches Licht auszugehen.
    Schlupf stand grinsend vor ihr. Selbst in gebückter Haltung schwebte sein Kopf zwischen den flimmernden Feenlichtern. Er setzte die Flöte an und spielte wieder, wobei er einen langsamen Tanz aufführte. Etwas an ihm war unpassend, ein Mißverhältnis, das Renie nicht recht benennen konnte. Wenn er ein Rep war, dann war er eine wirklich originelle Schöpfung.
    Schlupf blieb stehen und steckte die Flöte wieder weg. »Du bist langsam«, sagte er mit leisem Spott in seiner tiefen Stimme. »Komm schon, dein Freund wartet.«
    Mit einer ausladenden Handbewegung machte er eine ironische Verbeugung und trat zurück. Damit gab er ihr den Blick auf das andere Ende der langen Höhle frei, wo schattenhafte Gestalten den Schein eines Lagerfeuers umringten. Trotz ihres erneuten Gefühls, auf der Hut sein zu müssen, trat Renie vor. Ihr Herz raste.
    !Xabbu oder ein Sim, der seinem sehr ähnlich sah, saß im Kreis einer Gruppe viel schärfer gezeichneter Gestalten, alles Männer in ehemals feiner, jetzt aber abgerissener Kleidung, ähnlich wie Schlupf. Mit seinen bloß angedeuteten Gesichtszügen und seinen groben körperlichen Details sah der Buschmann nachgerade wie ein Lebkuchenmännlein aus.
    Noch mehr Märchen. Langsam wurde es Renie ein bißchen zuviel.
    »Alles okay mit dir?« fragte sie auf dem Privatband. » !Xabbu ! Bist du’s?«
    Es kam keine Antwort, und einen Augenblick lang war sie sicher, daß man sie hereingelegt hatte. Dann wandte der Sim sich ihr zu, und eine Stimme, die trotz der Verzerrung deutlich erkennbar die des Buschmanns war, sagte: »Ich bin sehr froh, daß meine neuen Freunde dich gefunden haben. Ich bin schon so lange hier. Allmählich dachte ich, du hättest mich hier zurückgelassen.«
    »Sprich mit mir! Wenn du mich hören kannst, heb einfach die Hand.«
    Der Sim rührte sich nicht, sondern sah sie mit ausdruckslosen Augen an.
    »Ich würde dich nicht verlassen«, sagte sie schließlich. »Wie bist du hier gelandet?«
    »Wir haben ihn aufgelesen, als er verirrt und durcheinander umhergewandert ist.« Schlupf setzte sich ans Feuer und zog dabei seine langen Beine an. »Meine Freunde und ich.« Er deutete auf die anderen im Kreis. »Das sind Pumpernickel, Zischer und Twill.« Seine Kameraden waren dick, dünn und noch dünner. Keiner war so groß wie Schlupf, aber ansonsten machten alle einen ganz ähnlichen Eindruck, aufgedreht, zappelig und ständig dabei, sich zu knuffen.
    »Vielen Dank.« Renie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder !Xabbu zu. »Wir müssen jetzt gehen. Wir sind ziemlich spät dran.«
    »Möchtet ihr uns nicht doch lieber noch ein Weilchen Gesellschaft leisten?« Schlupf spreizte die Hände vor den Flammen. »Wir kriegen hier nicht viele Besucher.«
    »Das würde ich gern. Ich bin euch sehr dankbar für eure Hilfe. Aber wir überziehen unsere Verbindungszeit.«
    Schlupf zog die Augenbrauen hoch, als ob sie etwas leicht Anstößiges gesagt hätte, aber blieb stumm. Renie beugte sich vor und legte ihre Hand auf !Xabbus Schulter, wobei sie, wie ihr deutlich bewußt war, in der TH gerade seinen wirklichen Körper anfaßte.

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