Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Trotz der geringen Kraftreflexion fühlte sie unverkennbar die schmale, vogelähnliche Statur ihres Freundes. »Komm jetzt. Wir gehen.«
»Ich weiß nicht wie.« Es lag nur ein klein wenig Traurigkeit in seiner Stimme, aber eine große Mattigkeit, als ob er gleich einschlafen wollte. »Ich habe es vergessen.«
Renie fluchte im stillen und leitete die Austrittssequenz für sie beide ein, aber als die Höhle um sie herum zu verschwimmen und zu verblassen begann, merkte sie, daß !Xabbu den Übergang nicht mitvollzog. Sie brach den Austritt ab.
»Irgendwas stimmt nicht«, sagte sie. »Irgendwas hält ihn hier fest.«
»Vielleicht müßt ihr doch noch etwas bleiben.« Schlupf lächelte. »Das wäre schön.«
»Herr Wonde kann uns noch ein paar Geschichten erzählen«, sagte Pumpernickel mit deutlichem Vergnügen auf seinem runden Gesicht. »Ich hätte nichts dagegen, die von der Luchsfrau und dem Morgenstern nochmal zu hören.«
»Herr Wonde kann euch keine Geschichten mehr erzählen«, sagte Renie scharf. Waren diese Männer Schwachköpfe? Oder waren sie bloß Reps, die in einer Schleife festhingen und immer wieder irgendeine seltsame Szene durchspielten, in die sie und !Xabbu hineingestolpert waren? »Herr Wonde muß gehen. Unsere Zeit ist um. Wir dürfen nicht länger bleiben.«
Der windhunddünne Twill nickte ernst mit dem Kopf. »Dann müßt ihr den Herren Bescheid sagen. Die Herren überwachen alles Kommen und Gehen. Sie werden die Sache in Ordnung bringen.«
Renie meinte zu wissen, wer diese Herren waren, und wußte, daß sie nicht vorhatte, den Leitern des Clubs ihr Problem vorzutragen. »Das können wir nicht. Wir … wir haben unsere Gründe.« Die Männer rings um das Feuer runzelten die Stirn. Wenn sie Replikanten waren, konnten sie jeden Moment eine automatische Pannenmeldung an die Störungssucher des Clubs durchgeben. Sie brauchte Zeit, um herauszufinden, warum !Xabbu sich nicht aus dem Netz herausholen ließ. »Es … es gibt einen sehr bösen Mann, der vorgibt, einer der Herren zu sein. Wenn die Herren gerufen werden, wird dieser Bösewicht uns finden. Wir dürfen sie nicht benachrichtigen.«
Alle Männer nickten jetzt wie abergläubische Wilde in einem abgeschmackten billigen Netzstreifen. »Dann werden wir euch helfen«, sagte Schlupf enthusiastisch. »Wir werden euch gegen den Bösewicht beistehen.« Er wandte sich an seine Kameraden. »Die Colleen. Die Colleen wird wissen, was für diese Leute getan werden muß.«
»Das stimmt.« Zischers Lispeln verriet die Herkunft seines Namens. Er sprach langsam und hatte ein schiefes Grinsen. »Sie wird helfen. Aber sie wird dafür was haben wollen.«
»Wer ist die Colleen?« Das war das irische Wort für Mädchen – waren diese Männer im RL Iren, oder wie kamen sie auf den Namen? Renie kämpfte gegen ihre Furcht und Ungeduld an. Ihrem Freund ging es sehr schlecht, die Clubdirektion suchte nach ihr, und Strimbello hatte gesagt, er wisse, wer sie wirklich sei, doch anstatt !Xabbu zu nehmen und sich schleunigst davonzumachen, war sie gezwungen, an einer Art Märchenszenarium teilzunehmen. Sie blickte den Buschmann an. Sein Sim saß regungslos neben dem Feuer, starr wie eine Schmetterlingspuppe.
»Sie weiß viel«, sagte Pumpernickel. »Manchmal verrät sie was.«
»Sie kann zaubern.« Schlupf fuchtelte mit seinen langen Händen herum, wie um es vorzumachen. »Sie erfüllt Wünsche. Aber sie will was dafür.«
Renie konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Wer seid ihr? Was macht ihr hier? Wie seid ihr hierhergekommen?«
»Das sind sehr, sehr gute Fragen«, sagte Twill langsam. Er schien der Denker unter ihnen zu sein. »Wir müßten der Colleen viele Geschenke machen, um auf alle eine Antwort zu erhalten.«
»Willst du damit sagen, ihr wißt nicht, wer ihr seid oder wie ihr hergekommen seid?«
»Wir haben … Vermutungen«, sagte Twill bedeutungsschwer. »Aber wir sind uns nicht sicher. Wir diskutieren manchmal nachts darüber.«
»Twill ist der beste Diskutierer«, erklärte Schlupf. »Vor allem deshalb, weil alle andern müde werden und aufhören.«
Sie mußten Replikanten sein, diese Männer, aber sie wirkten irgendwie verloren, abseits vom übrigen Club mit seinem grellen Glanz und seinen kalkulierten Lockungen. Es lief Renie eiskalt über den Rücken bei der Vorstellung, daß hier womöglich Konstrukte, codierte Gearelemente um ein virtuelles Lagerfeuer herumsaßen und über Metaphysik diskutierten. Sie wirkten so … einsam. Sie sah zu
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