Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
den glitzernden Lichtern im Wurzelgewirr über ihr auf. Wie Sterne. Kleine Flammen, die die Dunkelheit in der Höhe auflockerten, so wie ein Lagerfeuer ein Bollwerk gegen die Dunkelheit auf Erden bildete.
»Na schön«, sagte sie schließlich. »Bringt uns zu dieser Colleen.«
Schlupf beugte sich vor und zog eines der brennenden Scheite aus dem Feuer. Seine drei Freunde taten das gleiche, und ihre Gesichter waren auf einmal feierlich ernst. Renie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß dies alles auf merkwürdige Weise ein Spiel für sie war. Sie streckte die Hand nach dem letzten Holzscheit aus, aber Twill winkte ab. »Nein«, sagte er. »Wir müssen das Feuer stets brennen lassen. Damit wir wieder zurückfinden.«
Renie half !Xabbu auf die Füße. Er schwankte leicht, als wollte er vor Erschöpfung gleich ohnmächtig werden, aber blieb allein stehen, als sie ihre Hand wegnahm und sich den Männern zudrehte. »Ihr habt gesagt, wir müßten ihr ein Geschenk mitbringen. Ich habe nichts.«
»Dann mußt du ihr eine Geschichte schenken. Dein Freund Herr Wonde kennt viele – er hat uns ein paar erzählt.« Pumpernickel lächelte bei der Erinnerung. »Gute Geschichten waren das.«
Schlupf, der voranging, mußte sich immer wieder ducken, um nicht mit dem Kopf in die baumelnden Wurzeln zu kommen. Zischer machte den Abschluß; er hielt seine Fackel hoch, damit Renie und !Xabbu von Licht umgeben waren. Beim Gehen bemerkte Renie eine leichte Unschärfe an den Rändern ihres Gesichtsfeldes. Ohne daß sie es direkt geschehen sah, veränderte sich die Szenerie um sie herum. Die zarten Würzelchen über ihnen wurden dicker und die winzigen Lichter trüber. Die weiche, lehmige Erde unter ihren Füßen wurde härter. Nach einer Weile stellte Renie fest, daß sie durch eine Reihe von steinernen Höhlen schritten, wo nur die Fackeln ihren Weg erhellten. Seltsame Figuren bedeckten die Höhlenwände, Zeichnungen, die mit Holzkohle und Blut ausgeführt worden sein mochten, primitive Darstellungen von Tieren und Menschen.
Der Weg schien nach unten zu führen. Renie faßte nach !Xabbu , wobei sie sich in erster Linie seiner Gegenwart vergewissern wollte. Sie fühlte sich allmählich fast ebenso sehr als Bestandteil dieses Ortes wie Schlupf und die anderen. Welcher Teil des Clubs war das hier? Welchen Zweck hatte er?
» !Xabbu , kannst du mich hören?« Noch immer keine Reaktion auf dem Privatband. »Wie fühlst du dich? Alles in Ordnung?«
Er brauchte lange, bis er antwortete. »Ich … ich höre dich schlecht. Es sind noch andere Einflüsse da, ganz nahe.«
»Was meinst du mit anderen Einflüssen?«
»Das ist schwer zu sagen.« Seine Stimme klang apathisch. »Ich glaube, die Menschen des Urgeschlechts sind in der Nähe. Oder vielleicht der Hungrige, der vom Feuer Verbrannte.«
»Was soll das heißen?« Sie rüttelte ihn leicht an der Schulter, um seine sonderbare Lethargie zu durchbrechen, aber er kippte nur ein wenig zur Seite und wäre fast gestolpert. »Was ist los mit dir?« !Xabbu antwortete nicht. Zum erstenmal, seit sie ihn gefunden hatte, bekam Renie es wirklich mit der Angst zu tun.
Schlupf war vor einem großen natürlichen Torbogen stehengeblieben. Eine Kette grob gezeichneter Augen, dunkel wie Blutergüsse auf dem fackelbeschienenen Stein, lief rundherum. »Wir müssen leise gehen«, flüsterte er und legte einen langen Finger an seine Lippen. »Die Colleen mag kein lautes Getrampel.« Er führte sie unter dem Bogen hindurch.
Die Höhle dahinter war nicht so finster wie der Gang davor. Am anderen Ende brach scharlachrotes Licht aus einer Spalte im Boden und färbte den wallenden Dampf. Kaum zu sehen durch den rötlichen Dunst saß jemand auf einem hohen steinernen Thron, still wie eine Statue.
Die Figur rührte sich nicht, aber eine Stimme erfüllte die Höhle, ein brausendes Grollen, das sich trotz der deutlich zu verstehenden Worte eher wie eine Kirchenorgel als wie menschliche Rede anhörte.
»Tretet vor!«
Renie zuckte zurück, aber Schlupf nahm sie am Arm und führte sie zu der Spalte. Die anderen halfen !Xabbu , über den holperigen Boden zu gehen. Es ist – wie hieß es noch gleich? – das Orakel von Delphi, dachte Renie. Irgendwer hat sich hier mit griechischer Mythologie beschäftigt.
Die Gestalt auf dem Steinsitz erhob sich und breitete ihren Umhang wie Fledermausflügel aus. Es war durch das grobe Gewand und den hüllenden Dampf schwer zu erkennen, aber sie schien zu viele Arme zu
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