Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
haben.
»Was sucht ihr?« Die dröhnende Stimme kam von überall gleichzeitig. Renie mußte zugeben, daß das Ganze eindrucksvoll unheimlich war. Die Frage war nur, ob es wirklich etwas nützte, diesen ganzen Mumpitz mitzumachen.
»Sie wollen fortgehen«, sagte Schlupf. »Aber sie können nicht.«
Eine ganze Weile herrschte Schweigen.
»Ihr vier müßt gehen. Alles weitere betrifft nur noch sie.«
Renie wollte sich noch bei Schlupf und seinen Freunden bedanken, aber sie eilten bereits zum Höhleneingang zurück und rempelten dabei in ihrer Hast aneinander wie eine Bande von Lausbuben, die gerade einen Knallkörper angezündet hatten. Plötzlich begriff sie, was ihr seit ihrer ersten Begegnung an Schlupf merkwürdig vorgekommen war, ebenso wie an seinen Kameraden. Sie bewegten sich und redeten wie Kinder, nicht wie Erwachsene.
»Und was wollt ihr mir für meine Hilfe geben?« fragte die Colleen.
Renie drehte sich um. !Xabbu war vor der Spalte zu Boden gesunken. Sie straffte die Schultern und ließ ihre Stimme so ruhig klingen, wie sie konnte. »Die vier da haben uns gesagt, wir könnten eine Geschichte erzählen.«
Die Colleen beugte sich vor. Ihr Gesicht war verschleiert und unkenntlich, aber die Gestalt unter den Gewändern war unabhängig von der Zahl der Arme deutlich weiblich. Im Lichtschein sah Renie vor der Dunkelheit ihrer Brust ein Halsband aus großen bleichen Perlen schimmern. »Nicht einfach irgendeine Geschichte. Eure Geschichte. Sagt mir, wer ihr seid, und ich werde euch freilassen.«
Die Worte verschafften Renie eine Atempause. »Wir möchten ganz einfach gehen, und irgend etwas hindert uns daran. Ich bin Wellington Babutu aus Kampala in Uganda.«
»Lügner!« Das Wort krachte herunter wie ein schweres Eisengatter. »Sag mir die Wahrheit.« Die Colleen hob zu Fäusten geballte Hände hoch. Es waren acht. »Du kannst mich nicht täuschen. Ich weiß, wer ihr seid. Ich weiß genau, wer ihr seid.«
Renie stolperte in jäher Panik zurück. Strimbello hatte das auch gesagt – war dies alles ein Spiel, das er mit ihnen trieb? Sie versuchte, noch einen Schritt zu tun, und stellte fest, daß sie das sowenig konnte, wie sich von der Spalte abwenden. Das brennende Licht war auf einmal sehr hell; das rote Glühen und der davon abstechende dunkle Umriß der Colleen waren jetzt fast das einzige, was sie erkennen konnte.
»Du wirst nirgendwo hingehen, bevor du mir deinen richtigen Namen gesagt hast.« Jedes Wort schien physisches Gewicht zu haben, traf sie mit niederschmetternder Gewalt wie ein Hammerschlag nach dem anderen. »Du bist an einem Ort, an dem du nicht sein solltest. Du weißt, daß du ertappt worden bist. Du wirst glimpflicher wegkommen, wenn du dich nicht sträubst.«
Die Eindringlichkeit dieser Stimme und die ständigen Schlangenbewegungen der Arme vor dem Hintergrund des grellen Lichts waren seltsam zwingend. Renie verspürte einen nahezu übermächtigen Drang, sich auszuliefern, die ganze Geschichte ihres Betrugs zu bekennen. Warum sollte sie ihnen nicht sagen, wer sie war? Die anderen waren die Verbrecher, nicht sie selbst. Diese Leute hatten ihrem Bruder etwas angetan und Gott weiß wie vielen anderen noch. Warum sollte sie es geheimhalten? Warum nicht einfach alles hinausschreien?
Die Höhle krümmte sich um sie herum. Das scharlachrote Licht schien auf dem Grund eines tiefen Lochs zu brennen.
Nein. Es ist eine Art Hypnose, die mich in die Knie zwingen soll. Ich muß standhalten. Standhalten. Für Stephen. Für !Xabbu .
»Sprich!« verlangte die Colleen.
Ihr Sim ließ sich weder zurückbewegen noch sich abwenden. Die schlangenhaften Arme beschrieben immer schnellere Figuren, zerhackten das Strahlen aus der Spalte in einen blitzenden Wechsel von Dunkel und Hell.
Ich muß die Augen schließen. Aber nicht einmal das konnte sie. Renie bemühte sich angestrengt, an etwas anderes zu denken als an die Gestalt vor ihr, die fordernde Stimme. Wie konnten die sie daran hindern, auch nur zu blinzeln? Es war doch nur eine Simulation. Eine physische Einwirkung war ausgeschlossen, es mußte eine Art extrem starker Hypnose sein. Aber was hatte das alles zu bedeuten? Wieso »Colleen«? Wieso Mädchen? Eine Jungfrau, wie beim delphischen Orakel? Warum so ein Theater, nur um unbefugte Eindringlinge zu erschrecken? Sowas konnte man veranstalten, um einem Kind Angst einzujagen …
Acht Arme. Eine Halskette aus Schädeln. Renie war in Durban aufgewachsen, einer Stadt mit einem großen indischen
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