Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
erschien. »Außerdem hatten die derart einen in der Krone, daß sie sowieso nicht gemerkt ham, wo ich hin bin. Ich kann einfach sagen, ich hätt mich im Waschkorb schlafen gelegt, um vor ihrem Gegröle Ruhe zu haben.«
»Na, jedenfalls bin ich dir dankbar. Wohin bringst du mich?«
»Zu mir. Na ja, nicht bloß zu mir. Wir wohnen alle Mann da.«
Paul ließ sich zurücksinken. Jetzt, wo das plötzliche Wecken und das knappe Entkommen hinter ihm lagen, genoß er beinahe die Stille der Nacht, das Gefühl, unter einem anderen, größeren Fluß am Himmel dahinzugleiten. Hier hatte er Frieden und eine gewisse Gesellschaft. »Und wer sind ›alle Mann‹?« fragte er schließlich.
»Och, meine Kumpels«, antwortete Gally mit leisem Stolz. »Die Austernhausjungs. Wir halten zum weißen König, wir alle Mann.«
Sie machten das Boot an einem breiten Landungssteg fest, der weit in den Fluß hineinragte. Die Stelle, wo der Steg ans Ufer stieß, und die nach oben führende schmale Treppe waren von einer einzelnen Lampe beschienen, die sich in dem auffrischenden Wind sanft wiegte.
Paul blickte zu dem massigen Schatten auf der Uferanhöhe hinauf. »Dort wohnst du?«
»Zur Zeit. Stand ’ne Weile leer.« Flink wie ein Eichhörnchen kraxelte Gally aus dem Boot und auf den Landungssteg. Er langte nach unten und zog einen Sack heraus, den Paul gar nicht bemerkt hatte. Nachdem er ihn hingestellt hatte, streckte er Paul helfend die Hand hin. »Alle Boote hielten früher hier – die Männer sangen, während sie die Netze einholten…«
Paul folgte ihm den Hang hinauf. Die Treppe war in den Fels gehauen worden, und die Stufen waren so schmal und so schlüpfrig vom Nachttau, daß Paul sich zur Sicherheit seitwärts wandte, um auf jede Stufe den ganzen Fuß setzen zu können. Er schaute hinab. Die Lampe brannte weit unten. Das Boot war unter den Landungssteg getrieben.
»Nicht so langsam«, flüsterte Gally. »Wir müssen zusehen, daß Ihr ins Haus kommt. Es kommen zwar nur wenig Leute hier vorbei, aber wenn ihre Soldaten Euch auf den Fersen sind, sollte Euch lieber ja niemand nicht zu Gesicht bekommen.«
Paul neigte sich hangwärts, um sich an den höheren Stufen festzuhalten, und beeilte sich, so sehr er konnte. Obwohl er den Sack zu tragen hatte, sprang der Junge mehrmals zurück, um ihn anzutreiben. Schließlich kamen sie oben an. Hier gab es keine Lampe, und Paul konnte von dem Gebäude nichts erkennen als eine breit vor den Sternen stehende tiefere Dunkelheit. Gally packte ihn am Ärmel und zog ihn weiter. Nach einer Weile hörte Paul Bretter unter seinen Füßen knarren. Gally blieb stehen und klopfte – unverkennbar an eine Tür. Wenig später tauchte eine Erscheinung auf der Höhe von Pauls Knien auf, ein schimmernder, rechteckiger Gesichtsausschnitt.
»Wer da?« Die Stimme war fast nur ein Piepsen.
»Gally. Ich hab jemand mitgebracht.«
»Ohne die Parole kann ich dich nicht reinlassen.«
»Parole?« Gally zischte entrüstet. »Als ich heut morgen los bin, gab’s noch keine Parole. Mach auf.«
»Aber woher soll ich wissen, daß du’s bist?« Das Gesicht, das durch einen Schlitz in der Tür lugte, wie Paul jetzt sah, verzog sich grimmig bei dem komischen Versuch, strenge Pflichterfüllung zu mimen.
»Bist du bekloppt? Laß uns rein, Pointer, oder ich lang mal kurz durch und geb dir eins über die Rübe. Das wirste dann schon erkennen.«
Der Schlitz klappte zu, und einen Moment später ging die Tür auf; ein schwacher fischiger Geruch wehte heraus. Gally hob seinen Sack wieder auf und schlüpfte hinein. Paul folgte ihm.
Pointer, ein kleiner, blasser Junge, trat ein paar Schritte zurück und starrte den Neuzugang an. »Wer ist das?«
»Er gehört zu mir. Wird hier übernachten. Was soll dieser Kappes mit der Parole?«
»Das war Miyagis Idee. Es sind heut so komische Leute hier vorbeigekommen.«
»Und woher sollte ich die Parole wissen, wenn ich gar nicht da war?« Gally faßte in Pointers ungekämmtes Haar und zauste es kräftig, dann stieß er ihn vor sich her durch den dunklen Flur. Sie folgten dem kleinen Jungen in einen weiten, hohen Raum, der so groß wie ein Gemeindesaal war. Er war nur von wenigen Kerzen erleuchtet, so daß es mehr dunkle Stellen als helle gab, aber soweit Paul sehen konnte, war er bis auf den hartnäckigen Geruch nach Feuchtigkeit und Flußschlamm leer.
»Alles in Ordnung«, quäkte Pointer. »Gally ist’s. Er hat noch jemand mitgebracht.«
Dunkle Umrisse lösten sich aus den
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