Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
weißen Stoffband um den Kopf zusammengehalten, fielen ihr die dunklen Haare in verfilzten Knoten über die Schultern. Sie runzelte die Stirn und lutschte an einem Finger. »Was für eins?«
»Das Lied darüber, wo wir herkommen.« Gally ließ sich mit gekreuzten Beinen neben Paul nieder wie ein Wüstenprinz, der Befehl gibt, einen ausländischen Würdenträger zu unterhalten.
Blue nickte nachdenklich, nahm den Finger aus dem Mund und fing mit hoher, süßer und leicht bebender Stimme zu singen an.
»Das Meer war schwarz, das Meer war leer.
Von drüben überquerten wir
Das Meer so tief, schier ohne End,
Das uns vom Land des Schlafes trennt.
Weither, weithin, weithin, weither.
Sie riefen uns, doch wir warn fort.
Weither, weithin, weithin, weither.
Wir fuhren, fuhren übers Meer…«
Während er inmitten dieses kleinen Haufens Blues Stimme lauschte, die wie die Funken aus dem Feuer emporstieg, fühlte Paul plötzlich, wie seine eigene Einsamkeit sich um ihn legte wie eine Wolke. Vielleicht konnte er ja hier bleiben. Er konnte eine Art Vater sein, konnte dafür sorgen, daß diese Kinder nicht hungern und sich nicht vor der Welt außerhalb ihres alten Hauses fürchten mußten.
»Die Nacht war kalt, die Nacht war lang,
Durch die kein Licht als das Lied drang.
Die Nacht war tief, schier ohne End,
Die uns vom Land des Schlafes trennt…«
Es lag eine Wehmut darin, die Paul fühlen konnte, ein Ton der Trauer, der unter der Melodie mitschwang. Es war, als ob er dem Wimmern eines Vogelsjungen lauschte, das aus dem Nest gefallen war und jetzt über die unüberwindliche Distanz hinweg um die Wärme und Geborgenheit flehte, die es für immer verloren hatte.
»Fort übers Meer, fort durch die Nacht.
Jetzt suchen wir ein Licht, das wacht
Und liebend zur Erinnrung brennt,
Bis nichts vom Land des Schlafs mehr trennt.
Weither, weithin, weithin, weither.
Sie riefen uns, doch wir warn fort.
Weither, weithin, weithin, weither.
Wir fuhren, fuhren übers Meer…«
Das Lied ging noch weiter, und Paul fielen die Augen zu. Er schlief zum Klang von Blues kleiner Stimme ein, die hell gegen die Nacht ansang.
Ein Vogel schlug mit den Flügeln gegen eine Fensterscheibe, daß die Flügelspitzen immer wieder verzweifelt an das Glas pockerten. Gefangen! Er war gefangen! Der grün und violett schimmernde winzige Körper warf sich hilflos gegen die Scheibe, flatterte und klopfte wie ein versagendes Herz. Jemand mußte ihn befreien, erkannte Paul, oder er würde sterben. Die Farben, die schönen Farben würden aschgrau werden und schließlich vergehen, und damit wäre die Welt für alle Zeit um ein Stück Sonne ärmer geworden …
Er schreckte aus dem Schlaf hoch. Gally kniete über ihm.
»Still«, flüsterte der Junge. »Draußen ist wer. Könnten die Soldaten sein.«
Paul setzte sich auf, und da klopfte es wieder, ein trockener Ton, der durch das große Austernhaus raunte.
Vielleicht, dachte Paul, immer noch in Traumfetzen verfangen, sind es gar keine Soldaten. Vielleicht ist es nur ein sterbender Vogel.
»Steigt dort rauf.« Gally deutete auf eine wacklige Stiege, die auf eine der Emporen führte. »Versteckt Euch. Wir sagen ihnen nicht, daß Ihr hier seid, egal, wer es ist.«
Paul stieg die knarrende Stiege hoch, die beunruhigend schwankte. Offensichtlich war es lange her, daß jemand so Schweres sie betreten hatte. Wieder ertönte das verdächtige Klopfen.
Gally wartete, bis Paul die düstere Empore erreicht hatte, dann griff er sich einen schwelenden Stock aus dem Feuer und schlich zum Eingang. Ein fahles blaues Licht floß durch das breite Oberlicht herein. Der Morgen graute.
»Wer ist da draußen?«
Es gab eine Pause, als ob der Klopfer eigentlich gar nicht mit einer Antwort gerechnet hätte. Die Stimme, die sich dann meldete, war sanft und fast kindlich süß, und doch sträubten sich Paul sämtliche Nackenhaare, als er sie hörte.
»Ehrbare Männer. Wir sind nur auf der Suche nach einem Freund.«
»Wir kennen Euch nicht.« Gally bemühte sich angestrengt um eine feste Stimme. »Deshalb kann hier gar niemand sein, der sich Euer Freund nennt.«
»Ach so. Ja ja, aber vielleicht habt ihr ihn gesehen, unseren Freund?«
»Wer seid Ihr denn, daß ihr zu solcher Stunde an fremde Türen klopft?«
»Nur Reisende. Habt Ihr unseren Freund gesehen? Er war früher Soldat, aber er ist verwundet worden. Er ist nicht ganz richtig im Kopf, ganz und gar nicht richtig. Es wäre grausam, ihn
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