Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Inspektion weiterwandern. Er ließ seinen Blick nie sehr lange auf etwas verweilen, was seiner Gesprächsführung eine gewisse nervöse Gereiztheit verlieh. »Ein Fremdling, hä? Ein Neuzugang in unserer bescheidenen Grafschaft? Oder vielleicht seid Ihr ein Besucher einer eher flüchtigen Art? Auf Durchreise sozusagen? Ein Wandersmann?«
Paul zögerte. Trotz Gallys Beteuerungen war ihm Humphrey nicht ganz geheuer. Der Mann hatte eine Distanziertheit, als ob zwischen ihm und der Außenwelt eine hauchdünne Glaswand stände. »Ich bin fremd hier«, gestand er schließlich. »Ich möchte gern die Stadt verlassen, aber wie es scheint, bin ich in die Auseinandersetzungen zwischen der roten und der weißen Partei geraten – rote Soldaten wollten auf mich losgehen, obwohl ich ihnen gar nichts getan hatte. Und außerdem suchen noch andere Männer nach mir, Leute, denen ich lieber nicht begegnen möchte…«
»… Und deswegen müssen wir zusehen, wie wir ihn am besten vom Plan schaffen«, beendete Gally den Satz für ihn.
»Vom Plan?« Paul war verwirrt, aber der Bischof schien zu verstehen.
»Aha. Na schön, auf welche Weise zieht Ihr?« Er sah ihn kurz von der Seite an und setzte sich dann das Monokel ans Auge, das an einem Band vor seinem mächtigen Bauch gebaumelt hatte. In den Wurstfingern des Bischofs sah es wie ein bloßes Glassplitterchen aus. »Schwer zu sagen, da Ihr von außen kommt wie Gally und seine Rasselbande. Hmmmm. Ihr habt etwas vom Bauern an Euch, aber auch etwas vom Ritter. Ihr könntet natürlich auch etwas völlig anderes sein, aber solche Spekulationen hinsichtlich der Fortbewegung wären für mich fruchtlos – so als wollte man einen Fisch fragen, ob er lieber mit der Kutsche oder mit dem Veloziped reiste, wenn Ihr versteht, was ich meine. Hömm, hömm.«
Paul verstand gar nichts, aber man hatte ihn ja gewarnt, daß der Bischof eine Plaudertasche sei. Er setzte eine aufmerksame Miene auf.
»Bring das da drüben her, Junge, das große.« Humphrey deutete mit dem Finger darauf. Gally tat eilig, wie befohlen, und kam mit einem ledergebundenen Buch angetaumelt, das fast so groß war wie er. Mit Pauls Hilfe schlugen sie es über den Lehnen des bischöflichen Stuhls auf. Paul rechnete mit einer Landkarte, aber zu seiner Verwunderung enthielten die offenen Seiten nichts als ein Raster wechselfarbiger Felder, jedes mit seltsamen Zeichen und kleinen Diagrammen versehen.
»So, dann schauen wir mal…« Der Bischof beschrieb mit seinem breiten Zeigefinger eine Bahn über das Raster. »Das naheliegendste Vorgehen für Euch wäre, schleunigst übereck hierher zu ziehen. Für gewagte Diagonalen habe ich ja schon immer eine Schwäche gehabt, wenigstens seit meiner Investitur. Hömm. Allerdings hat es Meldungen über eine unangenehme wilde Bestie hier in der Gegend gegeben, so daß dies vielleicht doch nicht Eure erste Wahl sein sollte. Andererseits seid Ihr im Moment ziemlich in die Enge getrieben. Die Königin hat ein Schloß unweit von hier, und ich nehme an, Ihr würdet ihren Häschern lieber nicht über den Weg laufen, hmmm?« Er warf Paul einen listigen Blick zu, und dieser schüttelte den Kopf. »Das dachte ich mir. Und die Dame selbst sucht dieses Gebiet mit einiger Regelmäßigkeit auf. Sie bewegt sich sehr rasch, Ihr würdet also gut daran tun, keine langen Reisen durch ihr Lieblingsterritorium zu planen, auch nicht im Fall ihrer vorübergehenden Abwesenheit.«
Der Bischof lehnte sich zurück, daß sein stabiler Lehnstuhl quietschte. Er bedeutete Gally, das Buch zu entfernen, und der Junge gehorchte ächzend.
»Ich muß mich bedenken«, sagte der dicke Mann und ließ seine talgigen Lider sinken. Er schwieg so lange, daß Paul schon dachte, er wäre vielleicht eingeschlafen, und die Gelegenheit nutzte, sich im Zimmer umzuschauen. Außer der großen Sammlung schön gebundener Bücher fanden sich ringsum an den Wänden Merkwürdigkeiten aller Art, Flaschen mit getrockneten Pflanzen, Knochen und sogar vollständige Skelette unbekannter Wesen, glitzernde Edelsteine. Auf einem Bord stand ganz allein ein großes Glas voll lebender Insekten, von denen einige wie Brotrinde aussahen und andere eher einem Pudding glichen. Während er zusah, wie die absonderlichen Geschöpfe in dem verschlossenen Glas übereinanderkrabbelten, überkam Paul ein heftiges Hungergefühl, unmittelbar darauf gefolgt von jäher Übelkeit. Er war hungrig, aber so hungrig auch wieder nicht.
»Wie viel auch für die Ordnung spricht,
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