Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
daß sie aufstand und für ihn kochte. Freilich war der Beitrag, den er seinerseits zum Haushalt leistete, auch nicht sonderlich gestiegen. Sie aßen beide viel kalte Frühstücksflocken und Fertiggerichte aus der Welle.
Sie hörte die Haustür aufgehen. Sie setzte sich mühsam im Bett auf und trank einen Schluck Wasser, dann versuchte sie, sich wenigstens so weit herzurichten, daß sie einigermaßen normal aussah. Selbst wenn man fast gestorben wäre, war es peinlich, platt gelegene Haare zu haben.
Im Unterschied zu ihrem Vater kam der Buschmann in das Krankenzimmer, ohne zu zögern. Er blieb ein paar Schritte vor ihr stehen, eher aus einer merkwürdigen Form von Respekt, vermutete sie, als aus einem anderen Grund. Renie hielt ihm die Hand hin und zog ihn näher. Seine Finger fühlten sich warm und freundlich an.
»Ich freue mich sehr, dich zu sehen, Renie. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
»Es geht mir eigentlich ganz gut.« Sie drückte seine Hand und ließ ihn los, dann schaute sie sich nach einer Sitzgelegenheit für !Xabbu um. Auf dem einzigen Stuhl lagen Kleidungsstücke, aber !Xabbu schien nichts dagegen zu haben, zu stehen. »Ich mußte wie eine Löwin kämpfen, daß sie mich aus der Notaufnahme nach Hause ließen. Aber wenn ich ins Krankenhaus gekommen wäre, hätte ich wochenlang in Quarantäne gelegen.«
Zwar wäre sie damit auch Stephen nahe gewesen, aber sie wußte, daß das bestenfalls eine bittersüße Nähe gewesen wäre.
»Zuhause bist du am besten aufgehoben, denke ich.« Er lächelte. »Ich weiß, daß in einem modernen Krankenhaus erstaunliche Dinge geschehen können, aber ich bin immer noch ein Angehöriger meines Volkes. Ich würde noch kränker werden, wenn ich an so einem Ort liegen müßte.«
Renie sah auf. Ihr Vater stand im Hintergrund in der Tür und starrte !Xabbu an. Long Joseph hatte einen sehr sonderbaren Ausdruck im Gesicht; als er Renies Blick bemerkte, wurde daraus so etwas wie Verlegenheit.
»Ich geh mal eben zu Walter.« Er hielt ihr seinen Hut zum Beweis hin. Er ging ein paar Schritte zur Haustür, dann wandte er sich noch einmal um. »Kommst du klar?«
»Ich werd nicht sterben, während du weg bist, falls du das meinst.« Sie sah, wie sich sein Gesicht verschloß, und bereute ihre Worte. »Ich komm schon zurecht, Papa. Trinkt nicht so viel, du und Walter.«
Ihr Vater, der wieder !Xabbu angeschaut hatte, warf Renie einen finsteren Blick zu – ohne besondere Animosität, eher aus Prinzip. »Laß das gefälligst meine Sorge sein, was ich treibe, Mädel.«
Mit wachen Augen in seinem kleinen ernsten Gesicht stand !Xabbu immer noch geduldig da, als die Tür hinter Long Joseph zuging. Renie klopfte auf die Bettkante.
»Setz dich doch bitte. Du machst mich nervös. Tut mir leid, daß wir nicht früher reden konnten, aber durch die Medikamente, die ich nehmen muß, schlafe ich viel.«
»Aber jetzt geht es dir besser, oder?« Er betrachtete prüfend ihr Gesicht. »Du kommst mir gesund am Geiste vor. Als wir zurückkamen von … von dort, hatte ich zuerst sehr große Angst um dich.«
»Es war eine Herzrhythmusstörung – kein richtig schlimmer Herzanfall. Mittlerweile fühle ich mich sogar so weit wiederhergestellt, daß ich langsam richtig wütend werde. Ich hab sie gesehen, !Xabbu , die Schweine, die diesen Club aufziehen. Ich hab gesehen, was sie da machen. Ich hab immer noch nicht die leiseste Ahnung, warum, aber wenn wir beide nicht so dicht dran waren«, sie hielt ihre Finger hoch, »dasselbe Schicksal zu erleiden wie Stephen und Gott weiß wie viele noch, dann freß ich ’nen Besen.« !Xabbu blickte sie verwirrt an. Renie lachte. »Entschuldige. Der Ausdruck bedeutet: ›Ich bin sicher, daß ich recht habe.‹ Hast du ihn noch nie gehört?«
Der Buschmann schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich lerne die ganze Zeit dazu, lerne fast schon in dieser Sprache zu denken. Manchmal frage ich mich, was ich dabei verliere.« Er setzte sich endlich hin. Er war so leicht, daß Renie kaum die Matratze nachgeben fühlte. »Was machen wir jetzt, Renie? Wenn das stimmt, was du sagst, dann sind das schlechte Menschen, die sehr schlechte Dinge tun. Melden wir es der Polizei oder den Behörden?«
»Das ist einer der Gründe, weshalb ich dich sehen wollte – um dir etwas zu zeigen.« Sie langte hinter ihr Kissen nach ihrem Pad. Sie brauchte etwas, um es aus dem Spalt zwischen der Matratze und der Wand zu ziehen, in den sie es geklemmt hatte. Es erschreckte sie, wie schwach
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