Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
höchstwahrscheinlich den Soldaten der roten Königin in die Hände laufen, und dann müßt Ihr mit Kerker rechnen oder mit noch Schlimmerem.« Er schüttelte ernst den Kopf und saugte nachdenklich an seiner Lippe. »Nein, wir müssen jemand fragen, der sich auskennt. Ich schätze, wir sollten Euch zu Bischof Humphrey bringen.«
»Wer ist das?«
»Ihn zum Läufer Humpelpumpel bringen?« Das schien den kleinen Miyagi zu amüsieren. »Zu dem alten Schaumschläger?«
»Er kennt sich aus. Er wird wissen, wo Meister Paul hingehen sollte.« Gally wandte sich an Paul, als forderte er ihn auf, einen Streit zu entscheiden. »Der Bischof ist ein kluger Mann. Weiß von allem den Namen, selbst von Sachen, wo man meint, sie hätten gar keinen. Was haltet ihr davon?«
»Wenn wir ihm trauen können.«
Gally nickte. »Er ist ein Schaumschläger, das stimmt, aber er ist ein wichtiger Mann, deshalb lassen die Rotröcke ihn in Ruhe.« Er klatschte laut in die Hände, und die Kinder versammelten sich um ihn. »Ich werd jetzt meinen Freund zum Bischof bringen. Während ich weg bin, will ich nicht, daß ihr euch draußen rumtreibt, und vor allen Dingen nicht, daß ihr jemand reinlaßt. Die Idee mit der Parole ist gut – macht keinem die Tür auf, nicht einmal mir, solange er nicht das Wort ›Pudding‹ sagt. Kapiert? ›Pudding‹. Miyagi, du trägst die Verantwortung. Und Bay, wisch dir das Grinsen aus der Fissage. Versuch bloß dies eine Mal, dich nicht wie ein Kreteng aufzuführen, ist das klar?«
Gally führte ihn zur Hintertür hinaus; vor ihnen lag die Uferanhöhe und ein Kiefernwald, der bis kurz vor die Mauern des Austernhauses wuchs. Der Junge schaute sich vorsichtig um und winkte Paul dann, ihm in das Gehölz zu folgen. Augenblicke später stapften sie durch einen Wald, der so dicht war, daß sie das große Gebäude hinter sich schon nach dreißig Metern nicht mehr sehen konnten.
Der Morgennebel war immer noch dick und lag knapp über dem Boden. Der Wald war unnatürlich still; außer dem knirschenden Geräusch, das seine Füße auf dem Teppich aus gefallenen Nadeln machten – der Junge bewegte sich praktisch lautlos –, hörte Paul nichts. Kein Wind schüttelte die Zweige. Kein Vogel grüßte die aufgehende Sonne. Während sie sich unter den Bäumen ihren Weg bahnten und der Nebel um ihre Knöchel trieb, konnte Paul sich beinahe vorstellen, auf Wolken über den Himmel zu gehen. Der Gedanke warf den Schatten einer Erinnerung, aber woran auch immer, sie ließ sich nicht fassen und näher betrachten.
Sie waren, schien es ihm, wenigstens eine Stunde gegangen, die meiste Zeit bergab, als Gally, der mehrere Schritte voraus war, Paul winkte stehenzubleiben. Der Junge schnitt alle Fragen mit einer kurzen Bewegung seiner kleinen Hand ab und kam dann auf leisen Sohlen zurück an Pauls Seite.
»Gleich da vorn liegt die Kreuzung«, flüsterte er. »Aber mir war, als hätt ich was gehört.«
Sie schlichen den Hang hinunter, bis das Gelände flach wurde und sie zwischen den Bäumen eine Schneise mit einem rötlichen Streifen mittendrin sahen – die Landstraße. Gally führte sie mit großer Vorsicht daneben her, als ob sie eine schlafende Schlange der Länge nach abschritten. Urplötzlich sank er auf die Knie und zog dann Paul zu sich hinunter.
Sie hatten die Stelle erreicht, wo eine zweite staubige Straße die Bahn der ersten schnitt. Zwei Straßenschilder, die Paul nicht lesen konnte, deuteten von ihnen weg in dieselbe Richtung. Gally kroch vor, bis er, keine fünfzig Schritte von der Kreuzung entfernt hinter einem Busch versteckt, die Stelle beobachten konnte.
Sie hockten so lange schweigend da und warteten, daß Paul gerade aufstehen und sich strecken wollte, als er ein Geräusch hörte. Es war zunächst leise, leise und regelmäßig wie ein Herzschlag, aber langsam wurde es lauter. Schritte.
Zwei Gestalten tauchten aus der Richtung, in die die beiden Schilder wiesen, aus dem nebeligen Wald auf. Die beiden bewegten sich ohne Hast, und ihre Mäntel schleiften im taufeuchten Staub der Straße. Einer von ihnen war sehr groß und breit und ging eigentümlich schlurfend, aber beide waren zweifellos die nächtlichen Klopfer an der Tür. Paul spürte, wie es ihm die Kehle abschnürte. Einen Moment hatte er Angst, keine Luft mehr zu bekommen.
Die Figuren hatten die Mitte der Kreuzung erreicht und blieben kurz in einer Art von schweigendem Gedankenaustausch stehen, bevor sie in die Richtung weitergingen, aus der Paul und
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