Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
mit der uns Ihre Scharlachrote Majestät in dieser ausgedehnten Pattperiode beglückt«, sagte der Bischof so abrupt, daß Paul unwillkürlich zusammenfuhr, »so spricht doch auch manches für die eher laissezfairehafte Einstellung ihrer Vorgängerin. So daß ich es, ungeachtet der ausgezeichneten Beziehungen, die ich zu unserer Herrscherin unterhalte – wie ich sie auch schon zur vorigen Herrschaft unterhielt –, durchaus verstehen kann, wenn Ihr in dieser Hinsicht weniger glücklich seid.« Humphrey hielt inne und schöpfte tief Luft, als hätte ihn seine eigene bewundernswerte Rhetorik ganz außer Atem gebracht. »Wenn Ihr also den Nachstellungen unserer hochroten Monarchin entgehen wollt, müßt Ihr Euch, dünkt mich, zu der ersten von mir unterbreiteten Alternative durchringen. Ihr könnt dieses Feld passieren und befindet Euch dann direkt an der Grenze unseres Landes. Die schreckliche Bestie, die die Gegend unsicher machen soll, ist zweifellos ein Hirngespinst der Bauern, die bekanntlich dazu neigen, sich ihren langweiligen und stumpfen Alltagstrott mit solchen Märchen aufzulockern. Ich werde Euch eine Karte zeichnen. Ihr könnt noch vor Sonnenuntergang da sein. Carpe diem, junger Mann.« Er legte seine Hände zufrieden auf die Lehnen seines breiten Stuhls. »Kühnheit ist alles.«
Während Gally sich beeilte, dem Bischof Feder und Papier zu besorgen, ergriff Paul die Gelegenheit, nähere Erkundigungen einzuholen. Er war in letzter Zeit zu viel im Nebel getappt, bildlich und buchstäblich. »Wie heißt dieses Land?«
»Na, es wird manchmal der Achtfeldplan genannt, jedenfalls in den ältesten und gelehrtesten Werken. Aber wir, die von jeher hier gelebt haben, finden selten Anlaß, es überhaupt mit Namen zu nennen, da wir doch mittendrin sind! Ganz ähnlich einem Vogel, nicht wahr, wenn man ihn auffordern wollte, den Himmel zu definieren …«
Hastig stellte Paul ihm die nächste Frage. »Und früher standet Ihr auf gutem Fuß mit… dem weißen König?«
»Mit der Königin. Keiner von uns hat die schlafbedürftigen Souveräne unseres bescheidenen Territoriums jemals persönlich kennengelernt – sie halten sich von den Regierungsgeschäften weitgehend fern. Nein, es sind die Damen, gesegnet seien sie beide, die traditionell die Ordnung auf dem Achtfeldplan aufrechterhalten, während ihre Gemahle eher das Haus hüten.«
»Aha. Aber wenn ihr mit der weißen Königin auf gutem Fuß standet und jetzt die rote Königin das Land regiert, wie bringt Ihr es dann fertig, auch mit ihr befreundet zu bleiben?«
Der Bischof blickte ein wenig säuerlich drein. »Respekt, junger Mann.
Das bringt es genau auf den Begriff. Ihre Scharlachrote Majestät vertraut meinem Urteil – und ich darf hinzufügen, daß ich ebenso in weltlichen wie in überweltlichen Dingen konsultiert werde –, und ich habe somit einen ziemlich einzigartigen Status inne.«
Paul gab sich damit nicht zufrieden. »Aber falls die rote Königin erfährt, daß Ihr mir geholfen habt, obwohl wahrscheinlich ihre Soldaten nach mir suchen, wird sie dann nicht ungehalten sein? Und wenn die weiße Königin je wieder ihre Macht zurückgewinnt, wird sie dann nicht wütend sein, daß Ihr Euch so gut mit ihrer Feindin vertragen habt?«
Jetzt schien Humphrey wirklich verärgert zu sein. Seine spärlichen Augenbrauen zogen sich zusammen und stießen über der Nasenwurzel steil nach unten. »Junger Mann, es kommt Euch nicht zu, von Dingen zu sprechen, die außerhalb Eurer Kenntnis liegen, auch wenn es gerade Mode sein mag. Um jedoch den Anfang zu machen mit einer Erziehung, die Ihr offensichtlich bitter nötig habt, werde ich Euch etwas erläutern.« Er räusperte sich, als Gally gerade mit einer schmucken Feder und einem großen Blatt Kanzleipapier wieder auftauchte.
»Ich hab’s gefunden, Bischof.«
»Ja, sehr schön, mein Junge. Und jetzt still.« Der Bischof heftete kurz seine Äuglein auf Paul, bevor er sie wieder schweifen ließ. »Ich bin ein angesehener Mann, und zum Wohle des Landes hüte ich mich davor, mein nicht unerhebliches Gewicht auf die Waagschale der einen oder anderen Partei zu werfen. Denn Parteien sind unbeständig, flüchtig geradezu, wohingegen der Fels, auf dem meine Bischofswürde gründet, aus dem Stoff der Ewigkeit gemacht ist. Meine Position, um es mit einem Vergleich zu sagen, ist die eines Menschen, der auf einer Mauer sitzt. Ein solcher Sitz könnte einem, der ohne meine Erfahrung und meinen natürlichen Gleichgewichtssinn von
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