Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Gally gekommen waren.
Die Nebelschwaden umringelten ihre Füße. Zu den lang herabhängenden Mänteln trugen sie formlose Hüte, aber Paul konnte bei dem Kleineren dennoch das Blitzen von Brillengläsern erkennen. Der größere hatte eine eigentümlich gräuliche Hautfarbe und schien etwas im Mund zu haben, denn die vorspringenden Formen, die seine Oberlippe ausbeulten und gegen seinen Unterkiefer preßten, waren für Zähne sicherlich viel zu groß.
Paul krallte sich in den Nadelteppich, grub mit den Fingern Furchen in den Boden. Er fühlte sich schwindlig, beinahe fiebrig, doch er wußte, daß dort auf der Straße der Tod auf ihn Jagd machte – nein, etwas Schlimmeres als der Tod, etwas viel Leereres, Grausameres und Grenzenloseres als der Tod.
Als spürten sie seine Gedanken, blieben die beiden Gestalten plötzlich mitten auf der Straße stehen, direkt gegenüber von ihrem Versteck. Pauls Puls, der ohnehin schon entsetzlich schnell ging, raste jetzt in seinen Schläfen. Der kleinere Verfolger bückte sich und streckte den Kopf vor, als ob er ein anderes Wesen geworden wäre, eines, das eher auf vier Beinen ging als auf zwei. Er drehte langsam den Kopf; Paul sah die Gläser funkeln, einmal, zweimal, dreimal, weil durch die schattigen Bäume Licht darauf fiel. Der Augenblick schien sich ewig hinzuziehen.
Der größere Schatten ließ eine flache gräuliche Hand auf die Schulter seines Gefährten fallen und knurrte etwas – in seiner Panik konnte Paul nur Worte verstehen, die sich wie »Siegellack« anhörten –, dann setzte er seinen Weg derart langsam watschelnd fort, als wären seine Beine an den Knöcheln zusammengebunden. Wenig später richtete sich der kleinere auf und trottete mit hochgezogenen Schultern und vorgerecktem Kopf mürrisch hinter ihm drein.
Paul ließ den in seiner Brust brennenden Atem erst heraus, als die beiden Gestalten im Nebel verschwunden waren, und selbst dann blieb er noch eine Zeitlang regungslos liegen. Gally schien es mit dem Aufstehen ebenfalls nicht eilig zu haben.
»Auf dem Rückweg in die Stadt sind sie«, sagte der Junge leise. »Kann uns nur recht sein. Da finden sie reichlich Beschäftigung. Trotzdem denk ich, wir sollten von der Straße runter bleiben.« Er rappelte sich auf. Paul erhob sich ebenfalls und stolperte hinter ihm her mit einem Gefühl, als wäre er um ein Haar aus großer Höhe abgestürzt.
Kurze Zeit später überquerte Gally die Straße und führte sie auf eine kleinere Seitenstraße, die sich zwischen den Bäumen eine kleine Anhöhe hinaufschlängelte. Dort oben thronte inmitten eines Birkengehölzes eine sehr kleine Burg, deren Mittelturm wie ein Spitzhut emporragte. Die Zugbrücke war unten, das Burgtor – nicht größer als die Tür eines gewöhnlichen Hauses – stand offen.
Sie trafen den Bischof gleich im ersten Zimmer an. Umgeben von Regalen mit Büchern und Kuriositäten las er bei dem durch den Eingang hereinströmenden Licht in einem schmalen Bändchen. Die Art, wie er seinen breiten Lehnstuhl lückenlos ausfüllte, ließ es kaum glaublich erscheinen, daß er je daraus aufstand. Er war voluminös und kahlköpfig, hatte eine wulstige Unterlippe und einen derart breiten Mund, daß Paul sicher war, er müsse mehr als die normale Anzahl Knochen in seinem Kiefer haben. Er blickte auf, als ihre Schritte auf dem blanken Steinfußboden ertönten.
»Hmmm. Mitten in meinem Poesiestündchen, meiner allzu kurzen Frist ruhiger Besinnung. Na, was hilft’s?« Er klappte das Buch zu und ließ es dorthin gleiten, wo die Halbkugel seines Bauches auf die dünnen Beinchen stieß – es gab in dem Bereich nichts, was flach genug gewesen wäre, um Schoß zu heißen. »Ah. Der Küchenjunge, wie ich sehe. Gally, nicht wahr? Der Hüter des Küchenfeuers. Was führt dich zu mir, Schankknecht? Hat einer deiner aufgespießten Kadaver plötzlich nach der Beichte geschrien? Der Höllenschlund bringt es mit sich, daß mitunter ein solcher Sinneswandel eintritt. Hömm, hömm.« Es dauerte ein Weilchen, bis Paul erkannte, daß das hohle, paukenartige Geräusch ein Lachen war.
»Ich wollt Euch um Hilfe bitten, Bischof Humphrey, stimmt schon.«
Gally grapschte Pauls Ärmel und zerrte ihn heran. »Dieser Herr hier braucht einen Rat, und da sag ich zu ihm: ›Fragt doch Bischof Humphrey. Der ist der klügste Mann weit und breit.‹ Und da sind wir nun.«
»In der Tat.« Der Bischof richtete seine winzigen Äuglein auf Paul und ließ sie nach einer kurzen scharfen
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