Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
mit perplexem Stirnrunzeln zurückzublicken.
Susan hatte recht gehabt: Jeremiah war mehr als nur leicht verschnupft, als die Professorin und ihre Gäste zwanzig Minuten zu spät zum Mittagessen anmarschiert kamen. »Ich habe den Fisch erst gedünstet, als ich euch kommen hörte«, sagte er anklagend. »Aber für das Gemüse übernehme ich keine Verantwortung.«
Tatsächlich hatte sich das Gemüse bestens gehalten, und der Sägebarsch war zart und gut zu zerlegen. Renie konnte sich nicht erinnern, je so gut gegessen zu haben, und sie befleißigte sich, Dako das wissen zu lassen.
Mit leicht gebesserter Laune nickte der Mann, als er das Geschirr abräumte. »Doktor Van Bleeck würde lieber jeden Tag Sandwiches essen«, sagte er im Ton eines Kunsthändlers, der nach Gemälden auf schwarzem Samt gefragt worden war.
Susan lachte. »Ich mag einfach nicht nach oben kommen und mich zu Tisch setzen, wenn ich bei der Arbeit bin. Die Tage, an denen ich zu Mittag und manchmal auch zu Abend nicht durcharbeite, sind die Tage, an denen ich mein Alter merke. Du willst doch nicht etwa, daß ich mich alt fühle, oder, Jeremiah?«
»Die Frau Doktor ist nicht alt«, entgegnete er. »Die Frau Doktor ist stur und egozentrisch.« Er entschwand in die Küche.
»Armer Mann.« Susan schüttelte den Kopf. »Er hat hier zu arbeiten angefangen, als mein Mann noch lebte. Damals haben wir Partys gegeben, hatten Leute von der Universität hier, ausländische Besucher. Den Haushalt zu führen, muß viel erfüllender gewesen sein, da bin ich sicher. Aber er hat recht – an den meisten Tagen bekommt er mich nach dem Frühstück nicht mehr zu Gesicht, es sei denn, ich muß irgendwelche Schreiben unterzeichnen. Er hinterläßt bittere Zettelchen mit Bemerkungen darüber, was er alles gemacht hat, ohne daß es mir aufgefallen ist. Ich fürchte, ich muß darüber lachen.«
!Xabbu hatte Jeremiah mit wachem Interesse beobachtet. »Er ist wie der Bruder meiner Mutter, glaube ich – ein stolzer Mann, der mehr tun könnte, als man von ihm verlangt. Das ist nicht gut für die Seele.«
Susan schürzte die Lippen. Renie überlegte, ob sie vielleicht beleidigt war. »Vielleicht hast du recht«, sagte sie schließlich. »Ich habe Jeremiah in letzter Zeit nicht wirklich gefordert – ich habe mich ziemlich abgeschottet. Aber vielleicht war das egoistisch von mir.« Sie wandte sich an Renie. »Er kam in einer Zeit zu uns, als natürlich noch alles ziemlich drunter und drüber ging. Er hatte eine sehr schlechte Schulbildung – du weißt gar nicht, was du für ein Glück gehabt hast, Irene. Als du so weit warst, war das Schulsystem schon viel besser. Aber ich denke, Jeremiah hätte auf allen möglichen Gebieten gute Leistungen gebracht, wenn er die Gelegenheit gehabt hätte. Er hat eine außerordentlich rasche Auffassungsgabe und ist sehr gründlich.« Die Professorin blickte auf ihre Hände, auf den Silberlöffel, den sie in ihren knotigen Fingern hielt. »Ich hatte gehofft, seine Generation wäre die letzte, die darunter leiden muß, was wir getan haben.«
Renie mußte plötzlich an ihren Vater denken, wie er in einem Ozean zu ertrinken drohte, den keiner außer ihm sehen konnte, und keinen festen Boden unter die Füße bekam.
»Ich werde darüber nachdenken, was du gesagt hast, !Xabbu .« Susan legte ihre Gabel hin und wischte sich energisch die Hände ab. »Es ist durchaus möglich, daß man in seiner Lebensführung zu festgefahren wird. Gut, jetzt laßt uns mal gucken, was wir mit unserer geheimnisvollen Stadt machen können.«
Die Bildaufbereitungsprogramme hatten aus der Momentaufnahme so etwas wie ein erkennbares Bild gemacht. Die Stadt war jetzt in ihrer Substanz als ein Garten aus verschwommenen vertikalen Rechtecken und Dreiecken zu sehen, die impressionistischen Streifen dazwischen stellten die Straßen und Hochbahnschienen dar. Renie und Susan fingen an, kleine Bereiche zu korrigieren, indem sie aus der Erinnerung Details ergänzten, die die vom Optimierungsgear hergestellten groben Strukturen deutlicher hervortreten ließen. !Xabbu erwies sich als besonders hilfreich. Sein visuelles Gedächtnis war hervorragend: Wo Renie und Susan sich erinnerten, daß eine Wandfläche Fenster gehabt hatte, konnte !Xabbu oft angeben, wie viele es und welche erleuchtet gewesen waren.
Nach über einer Stunde hatte ein Bild Gestalt angenommen, in dem die goldene Stadt, die eine kurze Weile auf dem Bildschirm geglüht hatte, gut auszumachen war. Es war nicht so
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