Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
geläufig wäre, ich weiß, aber für meine Familie, besonders für die Familie meines Vaters, sind alle Lebewesen Menschen. Die Paviane sind die Leute, die auf den Fersen sitzen. Du hast bestimmt schon welche gesehen und weißt, daß es so ist.«
Renie nickte. Sie schämte sich ein wenig, weil sie Paviane nur aus dem Durbaner Zoo kannte. »Aber warum hast du gesagt, du wünschtest, daß Paviane auf einem Felsen wären?«
»Das bedeutet, daß eine Zeit großer Not ist und wir Hilfe brauchen. Meistens waren meine Leute und die Leute, die auf den Fersen sitzen, keine Freunde. Ja, vor langer Zeit begingen die Paviane ein schweres Verbrechen an unserem Großvater Mantis. Es kam zu einem großen Krieg zwischen seinem Volk und ihrem.«
Renie konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Er sprach von diesen mythischen Wesen, diesen Affen und Fangheuschrecken, so selbstverständlich, als ob sie Kommilitonen von der TH wären. »Ein Krieg?«
»Ja. Er entstand aus einem langen Streit. Der Mantis hatte Angst, der Konflikt könnte sich zuspitzen, und weil er gerüstet sein wollte, schickte er einen seiner Söhne aus, Stöcke für Pfeile zu sammeln. Die Paviane sahen, daß der Junge die Holzstöcke genau prüfte, und fragten ihn, was er da mache.« !Xabbu schüttelte den Kopf. »Der junge Mantis war ein Einfaltspinsel. Er erzählte ihnen, sein Vater rüste sich zum Krieg gegen die Leute, die auf den Fersen sitzen. Die Paviane wurden wütend und bekamen Angst. Immer erregter zankten sie miteinander, bis sie schließlich über den jungen Mantis herfielen und ihn töteten. Daraufhin nahmen sie, kühn gemacht von ihrem leichten Sieg, sein eines Auge und spielten damit. Sie warfen es wie einen Ball untereinander hin und her und stritten darum, wobei sie in einem fort riefen: ›Ich will es haben! Wer darf es jetzt haben?‹
Der alte Großvater Mantis hörte in einem Traum seinen Sohn rufen.
Er nahm seinen Bogen und lief so schnell zu der Stelle hin, daß selbst die wenigen Pfeile, die er mithatte, wie der Wind in einem Dornstrauch rasselten. Er kämpfte gegen die Paviane, und obwohl sie viel mehr waren als er und er schwer verwundet wurde, gelang es ihm, ihnen das Auge seines Sohnes abzunehmen. Er steckte es in seinen Fellbeutel und floh.
Er brachte das Auge an einen Ort, wo Wasser aus dem Boden quoll und Schilf wuchs, und er legte das Auge ins Wasser und gebot ihm, wieder zu wachsen. Viele Tage lang war es unverändert geblieben, wenn er nachsehen kam, aber er gab nicht auf. Da hörte er eines Tages ein Planschen und entdeckte, daß sein Kind wieder heil war und im Wasser schwamm.« !Xabbu grinste vor Freude über dieses glückliche Ereignis, dann blickte er wieder ernst. »Das war der erste Kampf im Krieg zwischen den Pavianen und dem Mantisvolk. Es war ein langer und schrecklicher Krieg, und beide Seiten erlitten viele Verluste, bevor er endete.«
»Aber das verstehe ich nicht. Wenn das die Geschichte ist, warum sagt ihr dann, ihr möchtet, daß Paviane euch helfen? Sie scheinen ja furchtbar zu sein.«
»Ach, sie waren doch nur deshalb so, weil sie Angst hatten und dachten, Großvater Mantis wolle sie bekriegen. Aber der wirkliche Grund, weshalb wir die Paviane um Hilfe bitten, ist eine alte Geschichte, die man sich in der Familie meines Vaters erzählt. Doch ich fürchte, ich rede zuviel.« Er blickte sie durch die Wimpern mit, fand Renie, einer gewissen Verschmitztheit an.
»Nein, bitte«, sagte sie. Alles war besser, als die trostlose graue Stadt an den Fenstern vorbeiziehen zu lassen und sich dabei ständig das eigene Versagen vorzuhalten. »Erzähl sie mir.«
»Die Begebenheit liegt weit zurück, so weit, daß du sie bestimmt für einen Mythos halten wirst.« Er faßte sie scherzhaft streng ins Auge. »Mir wurde erklärt, daß die Frau in der Geschichte die Großmutter der Großmutter meiner Großmutter war.
Jedenfalls begab es sich, daß eine Frau aus meiner Sippe, die N!uka hieß, von ihren Leuten getrennt wurde. Es war eine Dürre gekommen, und alle Leute mußten in verschiedene Richtungen ziehen, um die fernsten Sauglöcher ausfindig zu machen. Sie und ihr Mann gingen in eine Richtung; er trug ihr letztes Wasser in einem Straußenei, sie trug ihr kleines Kind auf der Hüfte.
Sie gingen weit, doch weder im ersten noch im zweiten Loch, in dem sie nachschauten, fanden sie Wasser. Sie zogen weiter, aber der Einbruch der Dunkelheit zwang sie zu rasten. Durstig und überdies hungrig – denn während einer Dürre ist
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