Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
natürlich auch schwer Wild zu finden – legten sie sich zum Schlafen hin. N!uka schmiegte ihr Kind dicht an sich, damit es die Schmerzen in seinem Bauch vergaß.
Sie wachte auf. Der Sichelmond, der die Männer des Urgeschlechts zum Bau des ersten Bogens inspiriert hatte, stand hoch am Himmel, aber er gab wenig Licht. Ihr Mann saß mit weiten und schreckensstarren Augen aufrecht neben ihr. Eine Stimme sprach aus der Dunkelheit jenseits der letzten verglimmenden Glut ihres Feuers. Sie konnten nichts erkennen als zwei Augen, die wie kalte, ferne Sterne funkelten.
›Ich sehe drei Menschen, zwei große, einen kleinen‹, sagte die Stimme. ›Gebt mir den kleinen, denn ich habe Hunger, dann will ich die anderen beiden gehen lassen.‹
N!uka preßte ihr Kind an sich. ›Wer bist du?‹ rief sie. ›Wer ist da?‹ Aber die Stimme wiederholte nur, was sie schon gesagt hatte.
›Das werden wir nicht tun‹, rief ihr Mann. ›Und wenn du dich unserem Feuer näherst, werde ich einen vergifteten Pfeil auf dich abschießen, und das Blut in den Adern wird dir bitter werden, und du wirst sterben.‹
›Dann wäre ich dumm, wenn ich an euer Feuer käme‹, sagte die Stimme. ›Aber ich kann warten. Ihr seid weit von euren Leuten entfernt, und irgendwann einmal müßt ihr schlafen …‹
Die Augen gingen zu. N!uka und ihr Mann hatten große Angst. ›Ich weiß, wer das ist‹, sagte N!uka . ›Das ist die Hyäne, die schlimmste der Alten. Sie wird uns verfolgen, bis wir einschlafen, dann wird sie uns töten und unser Kind fressen.‹
›Dann werde ich jetzt mit ihr kämpfen, bevor mir die Müdigkeit und der Durst die letzte Kraft rauben‹, sprach ihr Mann. ›Aber es kann sein, daß heute mein Todestag ist, denn die Hyäne ist schlau, und ihr Biß ist kräftig. Ich werde hingehen und gegen sie kämpfen, aber du mußt mit unserem Kind weglaufen.‹ N!uka widersprach ihm, aber er ließ sich nicht umstimmen. Er sang ein Lied an den Morgenstern, den größten aller Jäger, und ging dann in die Dunkelheit hinaus. Unter Tränen trug N!uka ihr Kind davon. Sie hörte ein hustendes Bellen – haff, haff, haff!« !Xabbu reckte das Kinn vor, um das Geräusch nachzumachen, »und auf einmal schrie ihr Mann auf. Danach hörte sie nichts mehr. Sie lief und lief und beschwor ihr Kind, ja still zu sein. Nach einer Weile hörte sie eine Stimme hinter sich rufen: ›Ich sehe zwei Menschen, eine große und einen kleinen. Gib mir den kleinen, denn ich habe Hunger, dann will ich die andere gehen lassen.‹ Da fürchtete sich N!uka sehr, denn jetzt wußte sie, daß die alte Hyäne ihren Mann getötet hatte und daß sie auch sie bald fassen und mit ihrem Kind töten würde, und keiner ihrer Leute war irgendwo in der Nähe und konnte ihr helfen. Sie war in jener Nacht allein.«
!Xabbus Stimme hatte einen eigenartigen Tonfall angenommen, als ob die Geschichte in ihrem ursprünglichen Wortlaut Mühe hätte, sich durch die fremde englische Sprache zu Gehör zu bringen. Renie, die schon ein wenig die Frage gedrückt hatte, ob ihr Freund die Geschichte tatsächlich für wahr hielt, hatte plötzlich so etwas wie eine Offenbarung. Es war eine Geschichte, nicht mehr und nicht weniger, und Geschichten waren das, womit die Menschen der Welt eine Gestalt gaben. In der Beziehung, erkannte sie, hatte !Xabbu vollkommen recht: Es gab kaum einen Unterschied zwischen einem Märchen, einer religiösen Glaubenslehre und einer wissenschaftlichen Theorie. Das war eine verstörende und eigenartig befreiende Erkenntnis, und einen Moment lang paßte sie nicht auf, was !Xabbu erzählte.
»… der dreimal so hoch wie sie vor ihr aus dem Sand aufragte. Ihr Kind fest an die Brüste gepreßt, erklomm sie diesen Stein. Lauter und lauter hörte sie die Hyäne schnaufen, und als sie zurückschaute, sah sie die großen gelben Augen in der Dunkelheit größer und größer werden. Wieder sang sie: ›Großvater Mantis, hilf mir jetzt, Großmutter Stern, hilf mir jetzt, gebt mir Kraft zu klettern.‹ Sie kletterte, bis sie außer Reichweite der Hyäne war, und kauerte sich dann in eine Felsspalte, während das Untier unten hin und her ging.
›Bald wirst du Hunger haben, bald wirst du Durst haben‹, rief die Hyäne zu ihr hinauf. ›Bald wird auch dein Kind Hunger und Durst haben und nach süßer Milch und Wasser schreien. Bald wird die heiße Sonne aufgehen. Der Felsen ist kahl, und nichts wächst darauf. Was wirst du tun, wenn dir der Magen weh tut? Wenn deine Zunge rissig wird
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