Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
wollte. Als ob man sich vornehmen würde, tatsächlich ins Märchenland zu fliegen oder in einen Kaninchenbau zu kriechen und nach Alice’ Freunden zu schauen.
Und doch war es auf unheimliche Weise schlüssig. Wenn es Leute gab, die in ein komplexes System wie Mittland reinhäcken und fünf oder noch mehr Minuten einfach rausschneiden konnten, ohne einen Hinweis nicht nur auf die Täter, sondern überhaupt auf den ganzen Vorgang zu hinterlassen, dann waren sie von der Sorte, die sich in TreeHouse herumtrieb.
Er sank in die Kissen zurück, doch er wußte, daß der Schlaf auf sich warten lassen würde. Es gab so viel, worüber er nachdenken mußte. Hatte er wirklich etwas Ungewöhnliches gefunden, etwas, was diesen ganzen Aufwand wert war, wofür es sich lohnte, so viele Risiken einzugehen? Oder hatte der Anblick der fremden Stadt ihn nur dazu gebracht, über Sachen nachzudenken, die er sich ansonsten längst aus dem Kopf geschlagen hatte? Fredericks würde ihm sagen, daß er zu weit ginge. Eine Datenbombe in einen fremden Knoten zu setzen, lag ganz bestimmt nicht im Rahmen des Normalen. Seine Eltern wären entsetzt.
Ein plötzlicher Gedanke jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Orlando setzte sich auf; er fand die Vorstellung zu beklemmend, um liegenbleiben zu können.
Er hatte sich eingebildet, daß nur jemand mit Zugang zum Mittland-Protokoll je erfahren könnte, daß er in Senbar-Flays Turm gewesen war – das hatte er auch Fredericks erzählt. Aber derjenige, der die Sequenz in der Gruft rausgeschnippelt und es fertiggebracht hatte, eine Schließanweisung ein halbes Jahr lang zu verheimlichen, konnte offensichtlich nach Belieben in die Stammdateien des Hohen Schiedsgerichts hineinspazieren und wieder hinaus und Sachen damit anstellen, die nicht einmal ihren Besitzern möglich waren.
Wenn das der Fall war, dann konnte sich der Manipulateur jederzeit über Thargors Besuch informieren. Und noch problemloser konnte der geheimnisvolle Häcker Thargors Hintermann – Hinterkind – herausfinden.
Saure Galle stieg Orlando in den Mund. Mit einer stupiden Selbstsicherheit, auf die jeder imaginäre Barbar stolz wäre, hatte er dieser Person von nahezu unbegrenzten Fähigkeiten und dem offensichtlichen Wunsch, geheim zu bleiben, praktisch mitgeteilt, daß ihr ein vierzehnjähriger Junge auf den Fersen war. Sicher war die ganze Sache bloß das Werk eines hochbegabten, ein wenig kindischen Witzboldes. Aber wenn nun die Stadt und die Fälschung des Protokolls Indizien für etwas Größeres, etwas weitaus Illegaleres waren? Er konnte nur hoffen, daß sein Gegner Humor hatte.
Juhu, du großer böser Computerkrimineller, ich bin’s, Orlando Gardiner. Komm doch mal vorbei. Ich werde nicht viel Widerstand leisten.
Herr im Himmel, wenn ihm jemand etwas tun wollte, brauchte er bloß an seiner Krankenakte herumzupfuschen. Das falsche Pharmapflaster, und es hieß Sayonara, Sara.
TreeHouse. Ein Bild aus Kindertagen, ein Ort, um der realen Welt der Erwachsenen und ihrer Vorschriften zu entkommen. Aber wer schlich sonst noch draußen vor dem Spielplatz herum, außer Reichweite der Behörden? Schlägertypen. Üble Strolche. Richtige Verbrecher.
Mit weit offenen Augen saß Orlando im Dunkeln und lauschte dem Nichts.
Kapitel
Besuch von Jeremiah
NETFEED/SPORT:
Karibenjunge unterschreibt Vertrag als »Versuchskaninchen«
(Bild: Bando bei einem Streetballspiel)
Off-Stimme: Der zwölfjährige Solomon Bando aus der Dominikanischen Republik wird als erstes Kind einer Hormonbehandlung im Auftrag und auf Kosten eines professionellen Lizenzsportvereins unterzogen. Bandos Eltern unterschrieben einen Vertrag mit den Ensenada ANVAC Clippers von der World Basketball Association, nachdem ihr Sohn aus mehreren hundert Bewerbern als optimaler Kandidat für eine Serie von aufbauenden Hormonbehandlungen und Knochentransplantationen ausgesucht worden war, mit deren Hilfe er als Erwachsener eine Körpergröße von wenigstens zwei Meter dreißig erreichen soll.
(Bild: Roland Krinzy, Vizepräsident der Clippers)
Krinzy: »Wir planen für die Zukunft, nicht nur für den Augenblick. Unsere Fans wissen das zu schätzen.«
> Renie sortierte sich umständlich ihre Einkaufstüten zurecht, um sie einigermaßen gut tragen zu können. Der Bus schnaufte und rollte auf halb platten Reifen langsam davon, um weitere Seelen an weiteren Straßenecken abzusetzen, wie ein seltsames Tier, das den Rand seines Territoriums mit Duftmarken
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