Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
sich und hob ihn hoch und trug ihn aus dem Austernhaus hinaus. Der Junge schluchzte derart heftig, daß er nur schwer zu halten war.
»Nein! Ich kann sie nicht verlassen! Bay! Bay ist da drin!«
»Du kannst ihnen nicht helfen. Wir müssen hier weg. Sie werden zurückkommen – die Kerle, die das getan haben.«
Gally wehrte sich, aber nur schwach. Paul stieß die Tür auf und eilte in den Wald, ohne auch nur zu schauen, ob sie beobachtet wurden. Überraschung und Schnelligkeit waren ihre einzige Hoffnung. Es dämmerte, und sie konnten tief im dichten Wald sein, bevor irgend jemand sie verfolgte.
Lange stolperte er mit dem Jungen auf dem Arm dahin. Als er nicht mehr weiter konnte, setzte er den Jungen so vorsichtig wie möglich ab und ließ sich dann auf den Boden fallen, den ein dicker Laubteppich polsterte. Der Himmel hatte die dunkelgraue Farbe eines nassen Steins angenommen. Die Zweige über ihnen waren nur noch dürre Silhouetten.
»Wo sollen wir jetzt hin?« Als er keine Antwort bekam, wälzte er sich herum. Gally hatte sich zusammengerollt wie eine Kugelassel, Knie angezogen, Kopf in den Händen. Der Junge weinte immer noch, aber ohne die Heftigkeit von vorher. Paul beugte sich über ihn und schüttelte ihn. »Gally! Wo sollen wir jetzt hin? Wir können nicht ewig hier bleiben.«
»Sie sind weg.« Es klang erstaunt, als würde es ihm erst jetzt langsam klar. »Weg.«
»Ich weiß. Wir können nichts daran ändern. Und wenn wir hier nicht wegkommen, wird uns das gleiche passieren.« Dabei wußte Paul, daß er mit Schlimmerem zu rechnen hatte, wenn seine zwei Verfolger ihn je erwischen sollten – aber woher wollte er das wissen, und wie sollte das überhaupt möglich sein? Die Fremden hatten die Austernhauskinder … ausgenommen, ihr Inneres herausgerissen.
»Wir ham zusammengehört.« Gally sprach langsam, als sagte er eine Lektion auf, die er selbst nicht so recht glaubte. »Ich kann mich nicht erinnern, daß es irgendwann anders gewesen wäre. Wir ham zusammen den Schwarzen Ozean überquert.«
Paul setzte sich auf. »Was für einen Ozean? Wo? Wann war das?«
»Ich weiß nicht.« Gally schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nur an die Überfahrt erinnern – das ist das erste, was ich noch weiß. Und daß wir zusammen waren.«
»Ihr alle? Das kann nicht sehr lange her sein. Einige von … einige von ihnen waren nur wenige Jahre alt.«
»Wir ham die Kleinen unterwegs gefunden. Oder sie uns. Wir waren zuletzt doppelt so viele wie da, wo meine Erinnerung anfängt. Doppelt so viele …« Seine Stimme erstickte, und er fing wieder an, leise vor sich hinzuschluchzen. Paul konnte dem Jungen nur den Arm um die Schultern legen und ihn an seine Brust ziehen.
Warum hatte dieses Kind mehr Erinnerungen aus seinem kurzen Leben als Paul aus seinem? Warum schienen alle mehr von der Welt zu wissen als er?
Der Junge beruhigte sich. Paul wiegte ihn unbeholfen an seiner Brust, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein. »Ihr habt den schwarzen Ozean überquert? Wo ist der?«
»Weit weg.« Gally Stimme klang gedämpft an seiner Brust. Das Tageslicht war fast verdämmert, und Paul konnte nur noch unterschiedliche Schattenformen erkennen. »Ich weiß es nicht – die Großen ham mir davon erzählt.«
»Welche Großen?«
»Die sind jetzt fort. Ein paar sind irgendwo geblieben, wo’s ihnen gefiel, oder sie konnten nicht mehr, aber wir andern sind weiter, weil wir auf der Suche waren. Manchmal sind die Großen auch einfach so verschwunden.«
»Was habt ihr denn gesucht?«
»Den Weißen Ozean. So ham wir ihn genannt. Aber ich weiß nicht, wo er ist. Eines Tages war der letzte fort, der größer war als ich, und dann war ich an der Reihe, sie anzuführen. Aber ich weiß nicht, wo der Weiße Ozean ist. Ich weiß es überhaupt nicht, und jetzt ist es auch egal.«
Er sagte das mit einer schrecklichen, todmüden Endgültigkeit und wurde in Pauls Armen ruhig.
Lange Zeit hielt Paul ihn einfach fest, lauschte auf die nächtlichen Geräusche und versuchte zu vergessen – oder sich wenigstens nicht ständig vor Augen zu führen –, was er im Austernhaus gesehen hatte. Grillen zirpten ringsherum. Der Wind rauschte in den höchsten Wipfeln. Alles war sehr still, als ob das Universum angehalten hätte.
Da merkte Paul, daß sich an seiner Brust nichts bewegte. Gally atmete nicht. Entsetzt sprang Paul auf, so daß der Junge auf den Boden rollte.
»Was ist? Was macht Ihr?« Gallys Stimme war schlaftrunken, aber kräftig.
»Tut mir
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