Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
leid, ich dachte …« Er legte sanft seine Hand auf die Brust des Jungen. Sie bewegte sich nicht. Genauso sanft und aus einem Instinkt oder einer Erinnerung heraus, die er nicht benennen konnte, glitt er mit der Hand zu der Einbuchtung unter dem schmalen Kiefer hoch. Er fühlte keinen Puls. Er fühlte bei sich nach. Sein Herz schlug rasch.
»Gally, woher kommst du?«
Der Junge murmelte etwas. Paul beugte sich dichter heran. »Was?«
»Jetzt seid Ihr der Große …«, murmelte Gally, bevor er wieder vom Schlaf übermannt wurde.
»Der Bischof Humphrey hat gesagt, das wär der beste Weg.« Trotz seiner traurigen, schwarzgeränderten Augen sprach der Junge mit entschiedener Stimme.
Es war eine schlimme Nacht gewesen, alle beide hatten schlecht geträumt. Paul war so froh, das Tageslicht wiederzusehen, daß er sich nur schwer zu einem Einwand aufraffen konnte, obwohl er sich durchaus nicht sicher war, daß er dem Rat des Bischofs traute.
»Er hat außerdem gesagt, auf diesem Weg würde irgendeine Gefahr lauern. Ein gräßliches Ungeheuer.«
Gally warf ihm einen gequälten Blick zu, der eindeutig sagte, daß Paul jetzt der Älteste und Größte sei und seine jüngeren Schutzbefohlenen nicht mit solchen Sorgen belasten solle. Paul fand das in gewisser Weise gerecht. Er verstummte und konzentrierte sich darauf, dem Jungen durch das Dickicht des Waldes zu folgen. Keiner von ihnen sagte etwas, was das Vorankommen ein wenig erleichterte. Paul war mit seinen Gedanken woanders: Der helle Morgen konnte die schrecklichen Erinnerungen nicht völlig vertreiben, weder an die Geschehnisse im Austernhaus noch an seinen nächtlichen Traum.
Im Traum war er eine Art Treiber gewesen, der Tiere zwang, auf ein großes Schiff zu gehen. Er erkannte die Tiere nicht, aber sie hatten etwas von Schafen und etwas von Rindern an sich. Blökend und mit rollenden Augen hatten die Geschöpfe sich gesträubt und sich im Eingang umgedreht, wie um sich die Freiheit zu erkämpfen, aber Paul und die anderen stummen Arbeiter hatten sie über die Schwelle in die Dunkelheit getrieben. Als alle Tiere eingeladen waren, hatte er die große Tür zugeschoben und verriegelt. Beim Weggehen hatte er dann gesehen, daß das Gefängnis weniger ein Schiff als so etwas wie eine riesige Schale oder Schüssel war – nein, ein Kessel, das war das Wort, ein Ding zum Kochen und zum Auslassen von Fett. Er hörte lauter werdende ängstliche Klagetöne aus dem Innern, und als er schließlich erwachte, schämte er sich immer noch für seinen Verrat.
Die Traumerinnerungen hingen ihm weiter nach. Während er hinter Gally herstapfte, schimmerte das riesige schüsselförmige Ding vor seinem inneren Auge. Er hatte das Gefühl, es in einer anderen Welt, einem anderen Leben schon einmal gesehen zu haben.
Ein Kopf voller Schatten. Und aller Sonnenschein der Welt kann sie nicht vertreiben. Er rieb sich die Schläfen, wie um die schlechten Gedanken hinauszuquetschen, und wäre beinahe gegen einen schwingenden Ast gelaufen.
Gally fand einen Bach, der in der Gegenrichtung bis zum großen Fluß vor dem Austernhaus rann, und sie folgten seinem Lauf bachaufwärts durch leicht ansteigendes Gelände, wo dichtes Gras auf den Lichtungen wuchs und die Vögel bei ihrem Nahen schrille Warnschreie ausstießen und vor ihnen her von Ast zu Ast flatterten, bis die Eindringlinge in sicherem Abstand von ihren versteckten Nestern waren. Einige der Bäume waren mit dick bestäubten Blüten beladen, weiße und rosa und gelbe Leuchten, und zum erstenmal fragte sich Paul, welcher Monat sein mochte.
Gally verstand die Frage nicht.
»Es ist kein Ort, sondern eine Zeit«, erklärte Paul. »Wenn es Blumen gibt, müßte Frühling sein, vielleicht Mai.«
Der Junge schüttelte den Kopf. Er sah blaß und unvollständig aus, als ob ein Teil von ihm mit den anderen Kindern zerstört worden wäre. »Aber hier gibt’s Blumen, Meister. Wo der Bischof wohnt, gibt’s keine. Ist doch klar, daß es nicht überall gleich sein kann, sonst würde alles genau in der gleichen Umgebung passieren. Das gäb vielleicht ein Durcheinander. Keiner wüßte, wo er hingehört – ein furchtbares Kuddelmuddel.«
»Weißt du dann, was ein Jahr ist?«
Gally blickte ihn wieder an, diesmal geradezu beunruhigt. »Ja-ar?«
»Schon gut.« Paul schloß der Einfachheit halber kurz die Augen. Sein Kopf schien voll wirrer, verknoteter Fäden zu sein, die ein einziges unauflösliches Knäuel bildeten. Warum sollte die Tatsache, daß
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