Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Gally nicht wußte, was ein Jahr oder ein Monat war, Sachen, an die er selbst bis zu dem Augenblick nicht einmal gedacht hatte, ihn so aus der Fassung bringen?
Ich bin Paul, sagte er sich. Ich war Soldat. Ich bin von einem Krieg weggelaufen. Zwei Leute … zwei Wesen … verfolgen mich, und ich weiß, daß sie mich nicht finden dürfen. Ich habe von einer großen Schüssel geträumt. Ich weiß etwas von einem Vogel, und von einem Riesen. Und ich kenne noch andere Sachen, für die ich nicht immer Namen habe. Und jetzt bin ich auf dem Achtfeldplan, was immer das sein mag, und suche einen Weg nach draußen.
Es war keine sehr befriedigende Bestandsaufnahme, aber mit ihr hatte er etwas, woran er sich festhalten konnte. Er war real. Er hatte einen Namen, und er hatte sogar ein Ziel – wenigstens im Moment.
»Jetzt geht’s hart bergan«, sagte Gally. »Wir sind kurz vorm Rand des Feldes.«
Die Steigung war in der Tat mittlerweile richtig steil geworden. Der Wald wurde lichter, und an seiner Stelle kamen niedrige, struppige Sträucher und moosbedeckte Felsplatten, hier und da mit Wildblumentuffs besprenkelt. Paul wurde allmählich müde, und der Elan seines Gefährten beeindruckte ihn: Gally war kein bißchen langsamer geworden, auch nicht als Paul beinahe auf allen vieren gehen mußte, um den Anstieg des Geländes zu bewältigen.
Die ganze Welt schien plötzlich zu gleißen und zu verschwimmen. Paul bemühte sich krampfhaft, das Gleichgewicht zu halten, aber in dem Moment gab es weder Oben noch Unten. Sein Körper schien sich aufzulösen, in seine Einzelteile zu zerfasern. Er schrie, oder bildete es sich ein, doch unmittelbar darauf war alles wieder normal, und Gally schien nicht einmal etwas gemerkt zu haben. Zitternd überlegte Paul, ob sein erschöpfter Körper vielleicht seinen Sinnen ein Schnippchen geschlagen hatte.
Als sie auf der Kuppe des Hügels ankamen, blickte Paul sich um. Das Land hinter ihnen glich durchaus nicht dem Raster des Bischofs – Wald und Hügel gingen nahtlos ineinander über. Er sah die Biegung des Flusses blauweiß in der Sonne funkeln und daneben gekauert den nunmehr so unheimlichen Umriß des Austernhauses. Er sah den Turm von Bischof Humphreys Burg durch die Wälder hindurch, und weiter weg stießen andere Türme durch die ausgedehnte Baumdecke.
»Dorthin wollen wir«, sagte Gally. Paul drehte sich um. Der Junge deutete auf eine Stelle ein paar Meilen entfernt, wo eine dicht bewaldete Bergkette bis nahe an einen anderen mäandrierenden Abschnitt des Flusses heran abfiel.
»Warum sind wir nicht einfach mit dem Boot gefahren?« Paul beobachtete, wie das Licht auf der Oberfläche tanzte und den breiten Fluß mit einem glitzernden Maschennetz überzog, so daß er beinahe wie etwas anderes als Wasser aussah, wie bewegtes Glas oder gefrorenes Feuer. »Wäre das nicht schneller gewesen?«
Gally lachte, dann schaute er ihn unsicher an. »Man kann auf dem Fluß nicht die Felder wechseln. Das wißt Ihr doch, oder? Der Fluß … der Fluß ist nicht so.«
»Aber wir sind doch drauf gefahren.«
»Bloß vom Wirtshaus zum Austernhaus. Das ist innerhalb von ’nem Feld – also erlaubt. Außerdem gibt’s noch andere Gründe, davon wegzubleiben. Deshalb sind wir bei Nacht gefahren.« Der Junge sah ihn mit besorgter Miene an. »Wenn man auf dem Fluß fährt, können die einen finden.«
»Die? Du meinst die beiden …?«
Gally schüttelte den Kopf. »Nicht bloß die. Jeder, der einen sucht. Das haben mir die Großen beigebracht. Auf dem Fluß kann man sich nicht verstecken.«
Er konnte es nicht deutlicher erklären, und zuletzt ließ Paul die Sache auf sich beruhen. Sie überschritten die Hügelkuppe und machten sich an den Abstieg.
Paul konnte nicht gleich erkennen, daß sie ein anderes Feld betreten hatten, wie Gally es nannte. Das Land sah ziemlich genauso aus: Stechginster und Adlerfarn auf den Höhen gingen in immer dichter bewaldete Hänge über, je tiefer sie kamen. Der einzige sofort ins Auge fallende Unterschied war, daß auf dieser Seite des Hügels das Tierleben reger zu sein schien. Paul hörte es im Gebüsch rascheln und sah gelegentlich ein helles Auge aus dem Laubwerk lugen. Einmal kam eine Schar winziger Ferkel, grün wie Frühlingsgras, ins Freie getrottet, aber als sie Paul und Gally sahen, quiekten sie warnend oder verärgert und flohen hurtig.
Gally wußte nichts über sie oder die anderen Tiere. »Ich bin doch noch nie hier gewesen, nicht wahr?«
»Aber du hast gesagt,
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