Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
du wegfährst, und ich fürchte …« Er verstummte. »Wirst du mich besuchen kommen, sobald du kannst? Wirst du am Montag wieder da sein?«
Sie nickte wieder. »Wir fliegen am Sonntagabend zurück. Hat meine Mami gesagt.«
»Gut. So, und jetzt gehst du besser. Viel Spaß.«
Christabel war schon auf dem Weg zur Tür, als sie sich noch einmal umdrehte. Er schaute sie an. Sein komisches, geschmolzen wirkendes Gesicht sah ganz unglücklich aus. Sie flitzte zurück und beugte sich über die Lehne seines Rollstuhls und gab ihm einen Kuß. Seine Haut fühlt sich kalt an und glatter als die stachlige Backe ihres Papas.
»Tschüs, Herr Sellars.« Sie machte die Tür rasch zu, damit seine feuchte Luft nicht entwich. Er rief ihr etwas nach, als sie den Weg hinunterlief, aber sie konnte ihn durch das dicke Glas nicht verstehen.
Sie ging langsam aus dem Beekman Court hinaus und dachte sehr angestrengt nach. Herr Sellars war immer nett zu ihr gewesen, und er war ihr Freund, auch wenn ihre Eltern ihr verboten hatten, ihn zu besuchen. Aber jetzt sagte er, er würde sie um schlimme Sachen bitten. Sie wußte nicht, was das für schlimme Sachen waren, aber ihr wurde ganz schwummerig im Magen, wenn sie daran dachte.
Würden es kleine schlimme Sachen sein, wie neulich, als sie die Seife genommen hatte? Das war eine kleine Sache, weil niemand was gemerkt hatte und sie nicht geschimpft worden war, und schließlich hatte sie sie ja nicht in einem Geschäft oder bei jemand anders zuhause gestohlen. Oder würden die Sachen ganz anders schlimm sein – die ganz, ganz, ganz schlimme Sache, zu jemand Fremdem ins Auto zu steigen, die ihre Mutter immer so aufregte, wenn sie darüber redete, oder eine verwirrende geheime schlimme Sache, wie Papas Freund Captain Perkins sie mal gemacht hatte, so daß Frau Perkins weinend zu ihnen nach Hause gekommen war? Das waren schlimme Sachen, die ihr niemand erklärte, sie zogen bloß so Gesichter und sagten »du weißt schon« oder redeten darüber, wenn Christabel zu Bett gegangen war.
Im Grunde genommen war Herr Sellars selber eine schlimme Sache, die ihr nie jemand erklärte. Ihre Mami und ihr Papi hatten ihr erzählt, es ginge ihm nicht gut und er sollte keinen Besuch kriegen, vor allem nicht von kleinen Kindern, aber Herr Sellars hatte gesagt, das stimme nicht ganz. Aber warum verboten ihre Eltern ihr dann, einen netten, einsamen alten Mann zu besuchen? Es war sehr verwirrend.
In sorgenvolle Gedanken versunken marschierte sie über einen Rasen um die Ecke der Redland Road. Sie hörte einen Hund im Haus bellen und wünschte, sie hätte auch einen Hund, ein hübsches weißes Hündchen mit Schlappohren. Dann hätte sie einen Freund, mit dem sie reden könnte. Portia war ihre Freundin, aber Portia wollte immer nur über Spielsachen reden und über Onkel Jingle und darüber, was andere Mädchen in der Schule sagten. Herr Sellars war auch ihr Freund, aber wenn er wollte, daß sie schlimme Sachen machte, war er vielleicht kein sehr guter Freund.
»Christabel!«
Erschrocken blickte sie auf. Ein Auto hatte neben ihr angehalten, und die Tür klappte auf. Sie stieß einen kleinen Schrei aus und sprang zurück – war das die schlimme Sache, die Herr Sellars gemeint hatte, war es schon soweit? Die allerschlimmste Sache überhaupt?
»Christabel, was hast du? Ich bin’s.«
Sie bückte sich, damit sie einen Blick in den Wagen werfen konnte. »Papi!«
»Spring rein, ich nehm dich mit.«
Sie stieg ins Auto und drückte ihn. Er hatte immer noch einen ganz schwachen Rasiergeruch an der Wange. Er hatte einen Anzug an, daran merkte sie, daß er auf dem Heimweg von der Arbeit war. Sie setzte sich zurück, während ihr Gurt sich um sie legte.
»Ich wollte dich nicht erschrecken, Kleines. Wo kommst du jetzt her?«
Sie machte den Mund auf, aber mußte sich kurz bedenken. Portia wohnte in der anderen Richtung. »Ich hab mit Ophelia gespielt.«
»Ophelia Weiner?«
»Hm-hm.« Sie schaukelte mit den Füßen und sah durch die Windschutzscheibe die Bäume vorbeigleiten. Die Bäume wurden langsamer und blieben stehen. Christabel blickte aus dem Seitenfenster, aber sie waren erst in der Stillwell Lane, zwei Straßen von zuhause entfernt. »Warum hältst du hier an?«
Die harte Hand ihres Vaters faßte sie unterm Kinn. Er drehte ihren Kopf herum, bis sie ihm ins Gesicht blickte. Sein Stirn war kraus gezogen. »Du hast mit Ophelia Weiner gespielt? Gerade eben? Bei ihr zuhause?«
Die Stimme ihres Papis war scharf
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