Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
warum ich in deinem Büro nicht reden wollte?«
Wells schüttelte langsam den Kopf. »Das ist ein Zirkelschluß, Daniel. Eine zufällige Panne ist immer noch das Wahrscheinlichste. Auch wenn deine SitMap-Leute meinen, daß es zu neunundneunzig Komma neun neun Prozent nach einem Eingreifen von außen aussieht – nur mal spaßeshalber angenommen, daß sie überhaupt die richtigen Zahlen haben –, dann besteht immer noch eine Chance von eins zu zehntausend, daß es Dusel war. Auf meiner Seite zweifelt niemand daran, daß es ein Unfall war, und es sind meine Ingenieure, die die Sache ausbügeln müssen. Es fällt mir sehr viel leichter zu glauben, daß wir bei diesen Chancen, die in Wirklichkeit gar nicht so gering sind, den absoluten Zufallstreffer gelandet haben, als anzunehmen, daß jemand von außen in das Gralsprojekt reingekommen ist.« Wieder ein eisiges Lächeln. »Oder in ›Re‹, wie unser furchtloser Führer es zu nennen beliebt. Sei so gut, und schenk mir noch etwas Wein nach. Ein chilenischer?«
Yacoubian füllte das Glas des anderen. »Kommt seit Jahr und Tag nicht aus seinem dämlichen Bunker raus, und jetzt säuft er sich einen an. Ein jahrhundertalter Teenager.«
»Hundertelf, Daniel. Beinahe.« Seine Hand mit dem Glas blieb auf halbem Weg zum Mund stehen. Er stellte das Glas ab.
»Verdammt nochmal, Bob, hier geht’s um was! Du weißt, wie viel Zeit und Energie wir alle in die Sache gesteckt haben! Du weißt, was für Risiken wir eingehen, allein schon mit diesem Gespräch!«
»Allerdings, Daniel.« Wells’ Lächeln schien jetzt festgefroren zu sein, wie ins Gesicht einer Holzpuppe geschnitzt.
»Dann fang endlich an, mich ernst zu nehmen. Ich weiß, daß du nicht viel vom Militär hältst – typisch für deine ganze Generation, soweit ich weiß –, aber wenn du glaubst, daß jemand es so weit bringen kann wie ich, ohne was auf dem Kasten zu haben …«
»Ich habe großen Respekt vor dir, Daniel.«
»Warum zum Donner glotzt du mich dann mit diesem dämlichen Grinsen an, wenn ich dich dazu kriegen will, über was Wichtiges zu reden?«
Der Mund des größeren Mannes wurde zu einem dünnen, geraden Strich. »Weil ich nachdenke, Daniel. Und jetzt sei mal ein Weilchen still.«
Die mittlerweile völlig verängstigte Kellnerin hatte die Erlaubnis bekommen, abzuräumen. Als sie beiden Männern einen Kaffee und dem General einen Schwenker Cognac hinstellte, faßte Wells sie sanft am Arm. Sie fuhr hoch und stieß ein kurzes überraschtes Quieken aus.
»Wenn du dich irgendwo verirrt hättest und nicht wüßtest, wie du da hingekommen bist, und den Ort nicht erkennen würdest, was würdest du tun?«
Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Wie… wie bitte, Sir?«
»Du hast mich doch verstanden. Was würdest du tun?«
»Wenn ich … mich verirrt hätte?«
»Und der Ort dir unbekannt wäre und du nicht wüßtest, wie du da hingelangt bist. Vielleicht hättest du sogar Gedächtnisschwund und könntest dich nicht erinnern, wo du her bist.«
Ungeduldig setzte Yacoubian an, etwas zu sagen, aber Wells warf ihm einen scharfen Blick zu. Der General verzog das Gesicht und wühlte in seiner Tasche nach seinem Zigarrenetui.
»Ich weiß nicht recht.« Die junge Frau wollte sich aufrichten, aber Wells hatte ihren Arm fest im Griff. Er war stärker, als seine bedächtigen Bewegungen vermuten ließen. »Ich denke, ich würde … irgendwo warten. An einem Ort bleiben, damit mich jemand finden kann. So haben wir’s bei den Pfadfinderinnen gelernt.«
»So so.« Wells nickte. »Du hast einen kleinen Akzent, meine Liebe. Wo bist du her?«
»Aus Schottland, Sir.«
»Schau an. Dann mußt du nach dem Zusammenbruch gekommen sein, nicht wahr? Aber sag mir, was wäre, wenn du in einem Land voller Fremder wärst und nicht wüßtest, ob je einer nach dir suchen käme? Was würdest du dann tun?«
Die Kellnerin wurde langsam panisch. Sie stützte ihre zweite Hand auf den Tisch und holte tief Atem. »Ich würde … ich würde versuchen, eine Straße zu finden, Leute zu finden, die viel herumkommen. Und ich würde die Leute nach Städten in der Nähe fragen, bis ich einen Namen erkennen würde. Dann würde ich vermutlich einfach auf der Straße bleiben und zusehen, daß ich in die Stadt komme, die sich bekannt angehört hat.«
Wells schürzte die Lippen. »Hmmm. Sehr gut. Du bist ein sehr kluges Mädchen.«
»Sir?« Ihr Ton war fragend. Sie probierte es noch einmal ein wenig lauter. »Sir?«
Er hatte
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