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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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»Jedenfalls dachte ich, es wär besser, erst mal mit dir zu reden.«
    Osiris runzelte die Stirn, aber nur über die anachronistische Sprache. Man konnte Technikern einfach nicht beibringen, längere Zeit daran zu denken, wo sie waren – oder vielmehr, wo sie sich vorstellen sollten zu sein. Immerhin war der hier noch der beste, den er gefunden hatte; hier und da mußte man Abstriche machen. »Das war recht getan. Verändere die Temperatur nicht. Möglicherweise weiß er, daß ich komme, und ist deswegen aufgeregt. Falls er weiter zu aktiv bleibt, wenn ich fertig bin – nun, das werden wir sehen.«
    »Dann kannst du jetzt, Sir. Die Verbindung ist hergestellt.« Der Priester wich zur Seite.
    Mit einer Geste ließ sich Osiris zu der steinernen Tür tragen, auf die die große Kartusche des Gottes Seth gehauen war, jede Hieroglyphe so groß wie einer der nubischen Träger. Auf eine erneute Geste hin verstummte die Musik. Die Tür ging auf. Der Gott stieg aus seiner Sänfte und schwebte durch die Tür in das dahinter liegende dunkle Gewölbe.
    Osiris begab sich zu dem wuchtigen schwarzen Marmorsarkophag, der allein in der Mitte der leeren, roh ausgehauenen Kammer stand und dessen Deckel einer schlafenden Gestalt mit dem Körper eines Menschen und dem Kopf eines undefinierbaren Tieres glich. Er verharrte eine Weile davor und sammelte seine Gedanken. Ein pulsierendes orangegelbes Licht drang durch den Spalt zwischen Sarg und Deckel, wie zur Begrüßung.
    »Ich bin hier, mein Bruder«, sagte er. »Ich bin hier, o Seth.«
    Es knisterndes Zischen ertönte und darauf ein lautes Kratzen, das dem Gott in den Ohren weh tat. Die Worte, die dem folgten, waren kaum zu verstehen.
    »… Nicht … Bruder …« Wieder ein Schwall von Störgeräuschen. »Zju … Z-Zeit … zu langsam. Laaangsaaam. Will … will …«
    Wie immer empfing Osiris die Notsignale von seinem wirklichen Körper, der weit entfernt und sicher in seiner besänftigenden Flüssigkeit lag. Es war Angst, nackte Angst, die ihn durchschoß und bewirkte, daß seine Nerven flatterten und seine Glieder zuckten. Jedesmal, wenn er dieses unmenschliche Krächzen hörte, war es das gleiche.
    »Ich weiß, was du willst.« Er zwang sich, seinen Willen darauf gerichtet zu halten, weswegen er gekommen war. »Ich versuche, dir zu helfen. Du mußt Geduld haben.«
    »… Höre … Blut-Ton. R-r-rieche Stimmen … will Licht.«
    »Ich werde dir geben, was du willst. Aber du mußt mir helfen. Erinnerst du dich? Unsere Abmachung?«
    Ein tiefes, feuchtes Stöhnen erklang. Einen Moment lang flimmerte der Sarkophag vor den Augen des Gottes, flogen einzelne Monaden auseinander wie bei einem Explosionsdiagramm. Darin, in einer Dunkelheit, die tiefer war als jede gewöhnliche, glühte etwas schwach vor sich hin, etwas Verkrümmtes, das sich wand wie ein Tier. Ganz plötzlich veränderte sich der Umriß wieder, und er meinte, ein einzelnes Auge aus dem wirbelnden Chaos starren zu sehen. Dann gab es ein Zittern, und der Sarkophag war wieder da, so solide und schwarz, wie eine Simulationstechnik ihn erscheinen lassen konnte.
    »… Erinnere … Trick …« Wenn man bei der verschleimten, rasselnden Stimme überhaupt von einem Ausdruck sprechen konnte, dann klang der Andere jetzt beinahe unwirsch, aber darunter schien eine viel tiefere Wut zu brodeln. Bei dem Gedanken wünschte Osiris plötzlich, er könnte schlucken.
    »Es war kein Trick. Ohne meine Hilfe wärst du nicht mehr am Leben. Und ohne meine Hilfe wirst du auch nie wieder frei sein. Und jetzt habe ich ein paar Fragen an dich.«
    Eine erneute Kakophonie erscholl. Als der Ausbruch vorüber war, kam knirschend und kratzend die Stimme wieder. »… Vogel … aus … deinem Käfig. Hauptsache … und die Flucht …« Die Laute wurden unverständlich.
    »Was? Was soll das heißen?«
    Der Sarkophag erschauerte. Einen Sekundenbruchteil hatte er zu viele Facetten, zu viele Winkel. Die Stimme klang abgehackt und verschluckt wie ein Gerät mit versagenden Batterien. »… Von der andern Seite … kommen … Stimmen. Bald.«
    In die Angst des Gottes mischte sich Ärger. »Wer kommt? Von der andern Seite? Was soll das heißen?«
    Diesmal klang die Stimme fast menschlich – so sehr ihr das überhaupt möglich war. »Die andere … Seite … von … allem.« Sie lachte – wenigstens hielt Osiris es für ein Lachen, dieses tiefe, klitschige Knirschen, das abrupt in einen fast unhörbaren, gleichbleibenden Heulton überkippte.
    »Ich habe Fragen!«

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