Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
wieder das halbe Lächeln aufgesetzt. Er brauchte ein Weilchen, bis er reagierte. »Ja?«
»Du tust mir am Arm weh, Sir.«
Er ließ sie los. Sie eilte schleunig zur Küche, ohne zurückzuschauen.
»Was sollte der Quatsch nun wieder?«
»Ich wollte nur mal sehen, wie Leute so denken. Normale Leute.« Wells nahm seinen Kaffee und nippte vorsichtig. »Wenn es möglich wäre, das Gralsprojekt zu infiltrieren und diese Versuchsperson zu befreien – ich sage nicht, daß es möglich ist, Daniel –, wer könnte das dann tun?«
Der General biß zu, so daß die glühende Spitze seiner Zigarre der Spitze seiner Nase gefährlich nahe kam. »Nicht allzu viele, soviel ist klar. Einer deiner Rivalen?«
Wells bleckte seine perfekten Zähne zu einem Lächeln ganz anderer Art. »Das glaube ich kaum.«
»Aber wer bleibt dann noch? UNComm? Eine der großen Metropolen? Ein Bundesstaat?«
»Oder jemand aus der Bruderschaft, wie schon gesagt. Eine Möglichkeit, denn die Person hätte einen Vorteil.« Wells nickte sinnierend. »Sie wüßte, wonach sie zu suchen hätte. Niemand sonst weiß überhaupt von der Existenz dieser Sache.«
»Das heißt, du nimmst es ernst.«
»Natürlich nehme ich es ernst.« Wells hob den Löffel aus der Kaffeetasse und sah zu, wie er tropfte. »Ich hatte sowieso schon angefangen, mir Sorgen zu machen, aber bei dem Reden über Prozente ist mir klargeworden, daß es ein gefährliches Spiel ist, noch länger die Augen davor zu verschließen.« Er tunkte den Löffel wieder ein und ließ den Kaffee diesmal auf die Tischdecke tropfen. »Ich habe nie verstanden, warum der alte Mann diese … Modifikation wollte, und natürlich hat es ein verflucht schlechtes Licht auf mich und TMX geworfen, als dieser Bursche auf einmal vom Radar runter war. Ich habe den alten Mann bis jetzt einfach machen lassen, aber ich denke, du hast recht, wir müssen ein bißchen proaktiver werden.«
»Das klingt doch schon besser. Meinst du, diese südamerikanische Geschichte hat was damit zu tun? Auf einmal ist es ihm furchtbar wichtig, daß unser alter Freund aus dem Verkehr gezogen wird. Bully hat sich doch schon vor beinahe fünf Jahren von der Bruderschaft zurückgezogen – warum jetzt?«
»Ich weiß nicht. Natürlich werden wir die Sache genau unter die Lupe nehmen, wenn er mit den näheren Einzelheiten rausrückt. Aber im Moment bin ich mehr daran interessiert, herauszufinden, wo sich das Loch in meinem Zaun befindet… sofern es eins gibt.«
Yacoubian trank seinen Cognac aus und leckte sich die Lippen. »Ich hab natürlich dieses ganze Sicherheitskommando nicht bloß deshalb mitgeschleppt, um ein Restaurant zu räumen. Ich dachte, ich könnte dir ein paar von denen als Helfer dalassen. Zwei von den Jungs haben in Pine Gap gearbeitet, und einer kommt direkt von Krittapongs Wirtschaftsspionageschule – er kennt sämtliche neuesten Tricks.«
Wells zog eine Braue hoch. »Er hat bei Krittapong USA gekündigt, um für dich zu arbeiten? Für Armeebesoldung?«
»Nee. Wir hatten ihn schon rekrutiert, bevor er da anfing.« Der General lachte und strich mit seinem Finger rundherum über den Rand des Schwenkers. »Du willst dich also darauf konzentrieren, rauszukriegen, wie jemand in das Projekt eindringen und das Versuchskaninchen des alten Mannes befreien konnte?«
»Falls jemand eingedrungen ist – ich gebe noch nicht zu, daß es so ist. Meine Güte, stell dir mal vor, was das heißen könnte! Aber du hast recht, das wird eine Richtung sein, in die meine Nachforschungen gehen werden. Und ich weiß noch etwas, was wir tun müssen.«
»Und das wäre?«
»Na, wer hat jetzt zu viel getrunken? Wenn du nicht ein bißchen besäuselt wärst, müßte ein militärisches Superhirn wie deines das eigentlich sofort sehen, Daniel.«
»Ich überhör das mal. Sprich.«
Wells legte seine eigentümlich faltenfreien Hände auf dem Tisch zusammen. »Wir haben Grund zu der Annahme, daß es irgendwo eine undichte Stelle gibt, nicht wahr? Und da meine Organisation letztlich die Verantwortung für die Sicherheit des Gralsprojekts trägt, darf ich niemandem vom Verdacht ausschließen – nicht einmal die Mitglieder der Bruderschaft. Nicht einmal den alten Mann selbst. Ist das richtig?«
»Ist es. Und was folgt daraus?«
»Daraus folgt, daß es jetzt mir obliegt – mit deiner Hilfe natürlich, denn Telemorphix hat von jeher die wärmsten Beziehungen zu den staatlichen Stellen unterhalten –, nicht allein diese undichte Stelle aufzuspüren,
Weitere Kostenlose Bücher