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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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an. »Was ist das?«
    Um dreiviertel zehn am Vormittag schon erschöpft und dennoch bebend vor unterdrückter Wut berichtete sie ihm von der verschärften Krankenhausquarantäne. Mittendrin wurde ihr klar, daß er noch gar nichts von Martine Desroubins wußte, und darum fing sie mit ihrer Erklärung noch einmal von vorn an.
    »Und hältst du diese Frau für vertrauenswürdig?« fragte er, als sie fertig war.
    »Ich weiß nicht. Ich denke. Ich hoffe es. Mir gehen langsam die Ideen aus, von Kraft ganz zu schweigen. Du kannst ja dabei sein, wenn sie am Mittag anruft, und mir sagen, was du denkst.«
    Er nickte langsam. »Und die Informationen, die sie dir bis jetzt gegeben hat?«
    Renie hatte der Krankenhausansage bereits den Ton abgedreht; jetzt brach sie die Verbindung ganz ab und lud die Atasco-Dateien. »Sieh selbst. Dieser Bolívar Atasco ist ein Ethnologe und Archäologe. Sehr berühmt. Dazu steinreich, Sohn aus wohlhabendem Hause. Er hat sich vor ein paar Jahren mehr oder weniger zur Ruhe gesetzt, aber hin und wieder schreibt er einen wissenschaftlichen Artikel. Er scheint Häuser in ungefähr fünf verschiedenen Ländern zu haben, aber Südafrika gehört nicht dazu. Ich sehe nicht, was das alles mit Stephen zu tun haben könnte.«
    »Vielleicht hat es gar nichts mit ihm zu tun. Vielleicht ist es etwas im Buch, irgendeine Idee, auf die Doktor Van Bleeck dich aufmerksam machen wollte.«
    »Kann sein. Martine schaut es sich auch an. Vielleicht stößt sie auf irgendwas.«
    »Was ist mit der anderen Sache – die wir kurz vor Doktor Van Bleecks Tod entdeckten?«
    Renie ließ müde den Kopf hängen. Es fiel ihr schwer, an etwas anderes zu denken als an Stephen, der jetzt, wo er im Krankenhaus abgekapselt war, noch weiter von ihr entfernt war als vorher. »Von welcher Sache redest du?«
    »TreeHouse war der Name. Alle Angaben über diesen Singh, diesen Einsiedlerkrebs, deuteten auf TreeHouse hin. Aber du hast mir nie gesagt, was TreeHouse ist.«
    »Wenn du mehr mit andern Studenten rumgetratscht hättest, statt so viel zu studieren, hättest du längst davon gehört.« Renie schloß die Atasco-Dateien. Starke Kopfschmerzen kündigten sich an, und sie hielt es nicht mehr aus, weiter auf den kompakten Text zu blicken. »Es ist eine Legende in der VR-Welt. Beinahe ein Mythos. Aber wahr.«
    !Xabbus Lächeln war leicht gequält. »Dann sind Mythen ansonsten falsch?«
    Sie wand sich innerlich. »Das wollte ich damit nicht sagen. Tut mir leid. Ich habe heute einen schlechten Tag, und er hat gerade erst angefangen. Außerdem ist Religion nicht meine Stärke, !Xabbu .«
    »Du hast mich nicht gekränkt, und ich wollte dir nicht noch mehr Verdruß bereiten.« Er tätschelte leicht ihre Hand, leicht wie das Streifen eines Vogelflügels. »Aber oft denke ich, die Leute glauben, nur das sei wahr, was sich messen läßt, und was sich nicht messen läßt, sei nicht wahr. Wenn ich Sachen von Wissenschaftlern lese, ergibt sich ein noch traurigeres Bild, denn einerseits ist es das, was die Leute unter ›Wahrheit‹ verstehen, aber andererseits sagt die Wissenschaft selbst, daß wir uns nicht mehr erhoffen können, als Muster zu finden. Aber wenn das stimmt, warum ist dann eine Art, ein Muster zu erklären, schlechter als andere? Ist Englisch schlechter als Xhosa oder meine Muttersprache, weil es nicht alles ausdrücken kann, was sie können?«
    Renie verspürte einen unbestimmten Druck, der nicht von den Worten ihres Freundes herrührte, sondern von der anscheinend immer größer werdenden Unmöglichkeit, überhaupt etwas zu verstehen. Worte und Zahlen und Fakten, die Werkzeuge, mit denen sie ihre Welt gemessen und gehandhabt hatte, schienen auf einmal ihre klare Eindeutigkeit verloren zu haben. » !Xabbu , mir tut der Kopf weh, und ich habe Angst um Stephen. Ich kann im Moment wirklich keine Grundsatzdebatte über Wissenschaft und Religion führen.«
    »Natürlich.« Der kleine Mann nickte und sah zu, wie sie eine Schmerztablette aus der Handtasche holte und hinunterschluckte. »Du siehst sehr unglücklich aus, Renie. Ist es bloß die Quarantäne?«
    »Gott, nein, es ist alles. Wir haben immer noch keine Antworten und keine Aussicht darauf, meinen Bruder zurückzuholen, und die Suche scheint nur immer komplizierter und nebulöser zu werden. Wenn dies hier ein Krimi wäre, gäb’s eine Leiche und Blutflecken und Fußspuren im Garten – es gibt definitiv einen Mord, und es gibt definitiv Indizien. Aber in unserm Fall bestehen sie nur

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