Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
mir noch einmal, was Susan zugestoßen ist. Und diesmal sag bitte die volle Wahrheit.«
Es war eine langwierige, aber nicht gänzlich unerfreuliche Prozedur. Die Frau am anderen Ende knauserte mit konkreten Auskünften, aber es gab Anflüge eines trockenen Humors, und vielleicht versteckte sich hinter der Reserve sogar ein gutes Herz.
Ihren Angaben nach hatte Martine Desroubins tatsächlich einen Anruf von Susan nach Renies Besuch erhalten, hatte aber zu dem Zeitpunkt nicht reden können. Zu der verschobenen Unterhaltung war es nicht mehr gekommen. Renie gab Susans Mitteilung auf dem Sterbebett nicht preis, aber nachdem sie die Krankheit ihres Bruders, ihre Versuche, die Ursache zu entdecken, und den merkwürdigen Stadtvirus auf ihrem Apparat beschrieben hatte, sagte die andere Frau eine ganze Weile nichts. Renie spürte, daß sie an einem Wendepunkt waren, als ob ein Schachspiel nach den Eröffnungszügen endlich richtig Gestalt annähme.
»Rief Doktor Van Bleeck mich an, weil sie dachte, ich könnte bei dem Problem deines Bruders helfen? Oder sollte ich einfach helfen, diese seltsame Stadt zu identifizieren?«
»Ich weiß es nicht. Sie hat mir nie gesagt, worüber sie mit dir reden wollte. Außerdem war da noch ein Buch – sie hat einen Zettel mit dem Titel hinterlassen.«
»Ach ja, ich erinnere mich, daß du anfingst, von dem Buch zu erzählen. Könntest du mir den Titel sagen?«
»Das frühe Mesoamerika. Von einem gewissen Bolívar Atasco.«
Diesmal war die Pause kürzer. »Der Name klingt irgendwie bekannt. Hast du dir das Buch angeschaut?«
»Ich hab’s heruntergeladen, aber ich kann nichts Relevantes entdecken. Ich hatte allerdings auch nicht viel Gelegenheit, mich genauer damit zu befassen.«
»Ich werde mir eine Kopie besorgen. Vielleicht fällt mir etwas auf, was dir entgangen ist.«
Renie verspürte eine unerwartete Erleichterung. Vielleicht kann sie ja wirklich helfen. Vielleicht kann sie mir helfen, in TreeHouse reinzukommen, diesen Singh zu finden. Ihrem kurzen Moment der Dankbarkeit folgte sofort eine tiefe Verunsicherung. Wieso sollte sie diese geheimnisvolle Unbekannte so rasch als mögliche Verbündete akzeptieren? Weil ich verzweifelt bin, deshalb. Laut sagte sie: »Jetzt weißt du über mich Bescheid, aber was ist mit dir? In der Beziehung habe ich nichts weiter gehört, als daß du Susan kanntest und daß die versuchte, dich zu erreichen.«
Die glatte Stimme klang amüsiert. »Ich bin nicht sehr mitteilsam gewesen, ich weiß. Meine Privatsphäre ist mir wichtig, aber es ist nichts Geheimnisvolles an mir. Ich bin, was ich dir gesagt habe – eine Rechercheurin, und zudem eine ziemlich bekannte. Das kannst du überprüfen.«
»Ich habe mein Leben in deine Hände gelegt, das weißt du. Ich fühle mich nicht sehr sicher.«
»Das kann sich ändern. Wie auch immer, laß mich dieses ethnologische Buch unter die Lupe nehmen, danach rufe ich dich in deiner Mittagspause wieder an. In der Zwischenzeit schicke ich dir Informationen über diesen Atasco. Das spart dir Sucharbeit. Und, Frau Sulaweyo …?« Aus ihrem Mund hörte sich sogar Renies eigener Name gallisch an.
»Ja?«
»Vielleicht sollten wir das nächste Mal Martine und Irene zueinander sagen, ja?«
»Renie, nicht Irene. Ansonsten ist es mir sehr recht.«
»Dann à bientôt.« Als Renie schon dachte, die Frau hätte so leise wie beim erstenmal Schluß gemacht, meldete sich die Stimme abermals. »Noch etwas. Ich will dir noch eine ganz andere Information geben, aber du wirst dich nicht darüber freuen, befürchte ich. Das Klinikum Durban Outskirt, in dem dein Bruder liegt, hat heute morgen eine vollständige Bukavu-4-Quarantäne erlassen. Ich denke, Besucher sind nicht mehr zugelassen.« Sie machte abermals eine Pause. »Es tut mir sehr leid.«
Renie starrte mit offenem Mund auf den leeren Bildschirm. Als sie so weit war, Fragen zu stellen, war die Leitung tot.
> !Xabbu traf sie in der ersten Pause in ihrem Büro an.
»Schau dir das an!« fauchte sie und deutete auf den Bildschirm ihres Pads.
»… alle Fragen an unseren Antwortdienst, oder wende dich an das Städtische Gesundheitsamt Durban. Wir hoffen, daß dies eine vorübergehende Maßnahme sein wird. Die Informationen werden täglich aktualisiert…«, sagte der müde aussehende Arzt ungefähr zum zehnten Mal.
»Es ist bloß eine blöde Endlosansage. Sie gehen nicht mal ans Telefon.«
»Ich verstehe nicht.« !Xabbu blickte erst den Bildschirm und dann Renie
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