Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
aus Sachen, die ein wenig merkwürdig wirken, Informationsbröckchen, die vielleicht eine Bedeutung haben. Je mehr ich drüber nachdenke, um so weniger werde ich draus schlau.« Sie drückte sich mit den Fingern auf die Schläfen. »Das ist so, wie wenn du ein Wort zu häufig wiederholst, und auf einmal bedeutet es nichts mehr. Es ist bloß … ein Wort. Das Gefühl habe ich.«
!Xabbu schürzte die Lippen. »So etwas Ähnliches meinte ich, als ich sagte, daß ich die Sonne nicht mehr hören kann.« Er schaute sich in Renies Büro um. »Vielleicht bist du schon zu lange hier drin – davon wird dein Gemütszustand nicht besser. Du bist früh gekommen, sagtest du.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich wollte ungestört sein. In dieser Unterkunft geht das nicht.«
!Xabbus Miene wurde schelmisch. »Nicht viel anders als in meiner Pension. Meine Vermieterin sah mir heute morgen beim Essen zu. Sehr genau, aber versteckt, damit ich es nicht merke. Ich denke, da sie vorher noch nie jemanden wie mich gesehen hat, ist sie sich nicht ganz sicher, ob ich ein Mensch bin. Also sagte ich zu ihr, das Essen sei gut, aber Menschen äße ich lieber.«
» !Xabbu ! Was fällt dir ein?«
Er lachte glucksend. »Dann sagte ich zu ihr, sie bräuchte keine Angst zu haben, meine Leute äßen nur das Fleisch ihrer Feinde. Danach bot sie mir eine zweite Portion Reis an, was sie vorher noch nie gemacht hat. Vielleicht möchte sie jetzt sichergehen, daß mein Bauch immer gut voll ist.«
»Ich bin nicht ganz sicher, daß das Stadtleben einen guten Einfluß auf dich hat.«
!Xabbu grinste sie an und freute sich, daß er sie ein wenig aufgeheitert hatte. »Erst wenn Menschen sich sehr weit von ihrer eigenen Geschichte entfernt haben, können sie sich einreden, daß andere, die sie für ›primitiv‹ halten, keinen Humor besitzen. Die Sippengenossen meines Vaters, die mitten in der Kalahari von einer dürftigen Mahlzeit zur nächsten lebten und meilenweit gehen mußten, um Wasser zu finden, erzählten sich dennoch gern Witze und lustige Geschichten. Unser Großvater Mantis spielt anderen gern Streiche, und oft besiegt er seine Feinde gerade mit solchen Streichen, wenn seine Kräfte nicht ausreichen.«
Renie nickte. »Die meisten der weißen Siedler hier dachten dasselbe über meine Vorfahren – daß wir entweder edle Wilde oder schmutzige Tiere wären. Aber nicht ganz normale Menschen, die sich gegenseitig Witze erzählen.«
»Alle Menschen lachen. Wenn je ein Geschlecht von Menschen nach uns kommt, so wie wir nach dem Urgeschlecht kamen, dann werden sie, denke ich, ebenfalls Humor haben.«
»Den werden sie brauchen«, sagte Renie säuerlich. Die kurze Ablenkung hatte nicht viel verändert; ihr Kopf pochte immer noch. Sie holte eine zweite Schmerztablette aus ihrem Schreibtisch und schluckte sie. »Dann werden sie uns vielleicht verzeihen, daß wir die Welt so heruntergewirtschaftet haben.«
Ihr Freund musterte sie kritisch. »Renie, können wir nicht genauso ungestört sein, wenn wir das Pad mit nach draußen nehmen und den Anruf von dieser Martine dort abwarten?«
»Wahrscheinlich. Warum?«
»Weil ich wirklich denke, daß du zu lange drinnen warst. Auch wenn eure Städte so aussehen, sind wir dennoch keine Termiten. Wir müssen den Himmel sehen.«
Sie wollte schon widersprechen, als sie merkte, daß sie gar keine Lust dazu hatte. »Okay. Hol mich in der Mittagspause hier ab. Deine Frage nach TreeHouse habe ich auch noch nicht beantwortet.«
Der kleine Hügel war kahl bis auf einen dünnen Rasenfilz und einen Akazienbaum, in dessen Schatten sie vor der hohen, starken Sonne Schutz suchten. Es ging kein Wind. Ein gelblicher Schleier hing über Durban.
»TreeHouse ist ein Relikt aus der Frühzeit des Netzes«, sagte sie. »Ein altmodischer Verein, dessen Mitglieder sich ihre eigenen Regeln geben. Wenigstens erzählt man sich das – die Leute, die dort hinkönnen, reden nicht viel darüber, deshalb wird das bißchen, was durchsickert, durch Gerüchte und Wunschdenken aufgebläht.«
»Du hast gesagt, sie halten diesen Ort verborgen, aber wie können sie das, wenn sie so altmodisch sind?« !Xabbu hob eine Samenschote auf und rollte sie zwischen den Fingern. Er saß in seiner mühelosen Art in der Hocke, eine Haltung, die in Renie jedesmal Bilder einer traumartigen, fernen Vergangenheit wachrief.
»Oh, ihre Geräte und ihr Gear sind auf dem neuesten Stand, glaub mir. Mehr als das. Das sind Leute, die ihr ganzes Leben im Netz verbracht
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