Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
haben – einige davon haben das Ding in den Anfangstagen praktisch gebaut. Vielleicht sind sie deswegen so militant. Aus einem Gefühl von Mitschuld daran, was daraus geworden ist.« Die Verspannung in ihrem Kinn und ihrem Nacken hatte sich ein wenig gelöst entweder das Schmerzmittel oder der offene Himmel hatten geholfen. »Na, egal, das Altmodische daran ist jedenfalls, daß viele von diesen Leuten Ingenieure und Häcker und frühe Netzbenutzer waren und sie damals die Vorstellung hatten, das Kommunikationsnetzwerk in seiner Verbreitung über die ganze Welt würde ein freier und offener Platz sein, ein Ort, wo Geld und Macht keine Rolle spielen. Niemand würde jemand anders zensieren, und niemand wäre gezwungen, sich danach zu richten, was irgendein Großkonzern will.«
»Und was geschah?«
»Was du dir denken kannst. Es war wahrscheinlich eine naive Vorstellung – wenn Geld ins Spiel kommt, verändert sich immer alles. Die Leute fingen an, immer mehr Regeln aufzustellen, und bald sah das Netz wie der Rest der sogenannten zivilisierten Welt aus.«
Renie hörte den bitteren Dozierton in ihrer Stimme und wunderte sich. Griff !Xabbus Einstellung zum Stadtleben langsam auf sie über? Sie blickte auf das endlose Häusergewirr, das die Hügel und Täler von Durban überzog wie ein bunter Schimmelpilz. Plötzlich kam es ihr beinahe unheimlich vor. Sie war immer der Meinung gewesen, daß der industrielle Fortschritt in Afrika, einem Kontinent, der so lange von anderen materiell ausgebeutet und selbst um den Nutzen gebracht worden war, im großen und ganzen eine gute Sache sei, aber jetzt war sie nicht mehr so sicher.
»Jedenfalls machten sich die TreeHouse-Leute eine Art Arche-Noah-Einstellung zu eigen, könnte man vielleicht sagen. Na ja, nicht richtig. Es waren nicht Dinge, die sie retten wollten, sondern sie hatten bestimmte Ideen, an denen sie festhalten wollten – zum Großteil anarchistische Vorstellungen von totaler Meinungsfreiheit und so –, und andere Ideen wollten sie draußen haben. Deshalb schufen sie TreeHouse und legten es so an, daß es nicht von industriellen oder staatlichen Sponsoren abhängig war. Es ist auf die Apparate seiner Benutzer verteilt und enthält dabei jede Menge Redundanz, so daß beliebig viele ausfallen könnten, ohne daß TreeHouse aufhören würde zu existieren.«
»Warum hat es diesen Namen – Baumhaus?«
»Keine Ahnung – frag doch mal Martine. Vielleicht kommt er von logischen Bäumen oder so. Viele von diesen Sachen aus der Anfangszeit des Netzes haben witzige Namen. ›Lambda Mall‹ kommt von einem frühen Experiment mit einer reinen Text-VR.«
»Das hört sich an, als wäre es ebenso sehr ein Zufluchtsort für Kriminelle wie für Menschen, die für Freiheit sind.« !Xabbu klang nicht so, als ob er sehr viel dagegen hätte.
»Oh, bestimmt. Je mehr Freiheit du den Menschen zum Guten läßt, um so mehr Freiheit haben sie auch zum Schlechten.«
Ihr Pad piepste. Renie klappte es auf.
»Bon jour.« Die Stimme kam wie immer von einem schwarz gestellten Bildschirm. »Hier ist deine Freundin aus Toulouse. Ich rufe an, wie verabredet.«
»Hallo.« Renie hatte ihre Videoleitung angestellt, aber eigentlich gebot es die Höflichkeit, daß die andere ihrerseits kein Bild von ihr empfing. »Ich bin nicht allein. Mein Freund !Xabbu ist bei mir. Er war mit mir bei Susan und weiß alles, was ich weiß.«
»Aha.« Martines Pausen wurden langsam zur Gewohnheit. »Ihr seid irgendwo draußen, stimmt’s?«
Also hatte die Französin ihr Video doch an. Das kam ihr irgendwie unfair vor. »Auf dem Gelände der Technischen Hochschule, wo ich arbeite.«
»Diese Leitung ist sicher, aber du mußt aufpassen, daß man dich nicht beobachtet.« Martine sprach energisch, aber nicht tadelnd, sondern rein sachlich. »Man kann von den Lippen ablesen, und es gibt viele Möglichkeiten, ferne Dinge so nah heranzuholen, daß man sie erkennen kann.«
Aus Verlegenheit darüber, auf etwas hingewiesen zu werden, was sie übersehen hatte, schaute Renie !Xabbu an, aber der hatte die Augen geschlossen und lauschte. »Ich werde versuchen, meine Lippen nicht allzu sehr zu bewegen.«
»Vielleicht könntest du dir auch die Hand vor den Mund halten. Das mag sich extrem anhören, Irene… Renie, aber abgesehen davon, daß ich den Ernst deines Problems begreife, muß ich an mich selbst denken.«
»Das hab ich gemerkt.« Ihre Gereiztheit ging mit ihr durch. »Was veranstalten wir hier eigentlich, Martine?
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