Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Das will ich meinen. Wen sucht ihr?«
»Einen der älteren TreeHouse-Leute. Sein Handle ist der Einsiedlerkrebs.«
Der Teller verlangsamte seine Drehbewegung. Gabel und Löffel sanken ein wenig herab. »Den Krebs? Diesen alten Knacker? Meine Güte, Martine, was wollt ihr denn von dem?«
Renie konnte ihre Ungeduld nicht bezähmen. »Du weißt, wo er zu finden ist?«
»Ich denke schon. Er hängt mit seinen übrigen Freunden im Spinnwebwinkel herum.«
»Spinnwebwinkel?« Martine klang verdutzt.
»Na ja, so sagen wir dazu. Im Gründerhügel. Mit den andern Alten.« Bei Alis Ton hätte man meinen können, daß man allein mit der Erwähnung des Namens Gefahr lief, dort zu landen. »Mein Gott, was ist das?«
!Xabbu und Renie drehten sich in die Richtung, in die der Blick des schwebenden Frühstücks zu gehen schien. Zwei stämmige europide Männer, umringt von einer Wolke winziger gelber Äffchen, glitten vorbei. Einer der Männer sah aus wie eine Figur aus einem extrem dummen Netzstreifen: Schwert, Kettenhemd und langer mongolischer Schnurrbart.
»Vielen Dank, Ali«, sagte Martine. »Wir müssen jetzt los. Es war sehr nett, dich wiederzusehen. Danke, daß du auf meinen Anruf geantwortet hast.«
Ali konnte die Neuankömmlinge anscheinend immer noch nicht fassen. »Lieber Himmel, sowas hab ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Denen sollte schleunigst geholfen werden.« Das Frühstücksgedeck wandte sich ihnen wieder zu. »Sehr bedauerlich. Das ist wohl der Preis der Freiheit – manche Leute ziehen einfach alles an. So, und ihr wollt schon wieder weiter? Martine, Liebste, ich bin absolut am Boden zerstört. Ach, was hilft’s? Küßchen.« Gabel und Löffel vollführten eine poussierliche Pirouette, dann schwebte das Frühstück lässig den beiden breitschultrigen Fremden und der Affenwolke hinterher. »Laßt euch doch mal anschauen!« rief es ihnen nach.
»Warum will dieser Mann aussehen wie etwas zu essen?« fragte !Xabbu sofort.
Renie lachte. »Weil er es kann, nehme ich an. Martine?«
»Ich bin noch da. Ich habe im Verzeichnis des Gründerhügels nach einem Eintrag geschaut, aber ohne Erfolg. Wir müssen uns hinbegeben.«
»Dann nichts wie los.« Renie beäugte das Zwölffingerdarminterieur ein letztes Mal. »Viel absonderlicher kann’s nicht mehr werden.«
Was immer der Gründerhügel früher einmal gewesen war, jetzt stellte er sich in der unkomplizierten Form einer Tür dar, wenn es auch eine gebührend große und imposante Tür war, sorgfältig auf antikes, wurmzerfressenes Holz gerendert, mit einem mächtigen, rostigen Messingklopfer in der Gestalt eines Löwenkopfes. Eine Öllampe hing darüber an einem Haken und verbreitete gelbes Licht unter dem Vordach. Der Eingang zum Gründerhügel war auch gebührend ruhig, wie es einem vergessenen Ort entsprach, obwohl sie gerade eben noch mitten im tollsten TreeHouse-Getümmel gesteckt hatten. Renie fragte sich, ob sein Aussehen eine hintergründige Selbstveralberung der Bewohner war.
»Warum gehen wir nicht hinein?« fragte !Xabbu .
»Weil ich dabei bin, das Notwendige zu tun, damit wir hineingehen können.« Martine klang ein wenig angespannt, als ob sie gleichzeitig versuchte, zu jonglieren und seilzuhüpfen. »Jetzt könnt ihr klopfen.«
Renie betätigte den Klopfer. Die Tür ging auf.
Vor ihnen erstreckte sich ein langer Flur, der ebenfalls von Ampeln erleuchtet war. An beiden Wänden verliefen Reihen gegenüberliegender Türen den Gang hinunter, der sich in scheinbar unendlicher Ferne verlor. Renie betrachtete die blanke Fläche der nächsten Tür und legte die Hand darauf. Text erschien, wie sie erwartet hatte, aber in einer Schrift, die sie nicht lesen konnte und die das fließende Aussehen von Arabisch hatte. »Gibt es ein Verzeichnis?« fragte sie. »Oder müssen wir an jede einzelne Tür klopfen?«
»Ich suche gerade nach einem Verzeichnis«, antwortete Martine.
Renie und !Xabbu konnten nur warten, allerdings schien der kleine Mann damit besser fertig zu werden als sie. Sie ärgerte sich schon wieder, nicht zuletzt darüber, daß sie nicht wußte, was ihre unsichtbare Führerin machte.
Wo liegt ihr Problem? Warum tut sie so heimlich? Ist sie irgendwie behindert? Aber was hätte das schon zu besagen? Ihr Gehirn funktioniert offensichtlich einwandfrei, und alles andere würde sie nicht daran hindern, einen Sim zu benutzen.
Man konnte meinen, mit einem Geist oder einem Schutzengel unterwegs zu sein. Bis jetzt schien Martine ein guter
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