Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Geist zu sein, aber Renie war nur ungern so sehr von jemand abhängig, die sie so wenig kannte.
»Es gibt kein Verzeichnis«, verkündete die Führerin. »Nicht von den einzelnen Knoten. Aber es gibt Gemeinschaftsbereiche. Vielleicht kann uns in einem davon jemand helfen.«
Ohne das Gefühl einer Fortbewegung wurden sie abrupt den scheinbar endlosen Korridor hinunter an eine Stelle versetzt, von der aus der Eingang nicht mehr zu sehen war, aber wo sie trotzdem noch vor einer der vielen gleich aussehenden Türen standen. Sie öffnete sich, wie von Martines unsichtbarer Hand aufgestoßen, und Renie und !Xabbu schwebten hinein.
Der Raum war natürlich innen viel größer als der Abstand zwischen den Türen im Flur. Er schien mehrere hundert Meter lang zu sein und war vollgestellt mit kleinen Tischen wie der Lesesaal einer altmodischen Bibliothek. Er hatte eine gewisse Clubatmosphäre, denn an den Wänden hingen Bilder – als Renie genauer hinsah, erkannte sie, daß es Poster uralter Musikgruppen waren – und überall waren virtuelle Pflanzen, die zum Teil recht aggressiv Platz beanspruchten. Aus den Fenstern an der gegenüberliegenden Wand hatte man einen Blick auf den amerikanischen Grand Canyon, wie er aussehen würde, wenn er voll Wasser und von höchst außerirdisch wirkenden Unterwasserlebewesen bevölkert wäre. Renie kam kurz der Gedanke, ob sie vielleicht durch allgemeine Abstimmung über das Panorama entschieden hatten.
Überall waren Sims, die sich in Gruppen um Tische drängten, träge dicht unter der Decke schwebten oder in gestikulierenden, debattierenden Schwärmen zwischen diesen beiden Lagern in der Luft hingen. Sie schienen von der blasierten Selbstdarstellerei der übrigen TreeHouse-Bevölkerung unberührt zu sein: Viele der Sims waren nur wenig komplexer als die von Renie und !Xabbu . Wenn dies, wie Ali angedeutet hatte, die ältesten Bewohner der Kolonie waren, dann trugen sie, überlegte Renie, vielleicht die Sims ihrer Jugend, so wie alte Leute im RL sich immer noch gern nach der Mode ihrer frühen Erwachsenenzeit kleideten.
Ein ziemlich einfacher weiblicher Sim driftete vorbei. Renie erhob eine Hand, um auf sich aufmerksam zu machen.
»Entschuldigung. Wir suchen den Einsiedlerkrebs.«
Die Simfrau sah sie mit den ausdruckslosen Augen eines geschminkten Mannequins an, aber sagte kein Wort. Renie war verblüfft. Englisch war normalerweise in den meisten internationalen VR-Environments die Verkehrssprache.
Sie begab sich weiter in den Raum hinein und steuerte einen Tisch an, an dem eine laute Diskussion im Gange war. Beim Näherkommen hörte sie einzelne Gesprächsfetzen.
»… ganz bestimmt nicht. Ich hab En-BICS gesysopt, kurz bevor es total abgeschlafft ist, ich muß es also wissen.«
Jemand entgegnete etwas in einer Sprache, die sich asiatisch anhörte, mit ziemlicher Heftigkeit.
»Aber genau das ist der Haken! Zu dem Zeitpunkt war es schon komplett multinational!«
»Oh, McEnery, du bist so ein cabron!« sagte eine andere Stimme. »Chupa mi pedro!«
»Entschuldigung«, bemerkte Renie, als die Debatte kurz einmal abflaute. »Wir suchen den Einsiedlerkrebs. Uns wurde gesagt, daß er im Gründerhügel wohnt.«
Alle Sims schauten sich nach ihr um. Einer, ein Teddybär mit ziemlich unpassenden Männlichkeitsmerkmalen, lachte schallend mit der rauhen Stimme eines alten Mannes. »Sie suchen den Krebs. Der Krebs hat Fans.«
Einer der anderen Sims deutete mit einem Stummeldaumen in die hintere Ecke des Saales. »Da drüben.«
Renie sah hin, aber konnte auf die Entfernung keine Individuen erkennen. Sie winkte !Xabbu , ihr zu folgen. Er starrte immer noch den Teddybär an.
»Nein, frag mich nicht«, sagte Renie.
In der Ecke saß tatsächlich ein Sim ganz für sich allein, eine sonderbare Erscheinung. Es war ein dunkelhäutiger alter Mann mit grimmigem Blick und einem stoppligen grauen Bart, der in mancher Hinsicht eigentümlich real und in anderer eigentümlich irreal wirkte. Er war in der legeren Art gekleidet, die fünfzig Jahre zuvor modern gewesen war, aber trug dazu einen Turban und einen Überzieher, den Renie zunächst für eine Art Zeremonialgewand hielt. Erst nach einer Weile wurde ihr klar, daß es sich um einen alten Bademantel handelte.
»Entschuldigung …«, begann sie, aber der alte Mann schnitt ihr das Wort ab.
»Was wollt ihr drei?«
Renie brauchte einen Moment, bis ihr Martine wieder einfiel, die ungewöhnlich still war. »Bist du … bist du der Einsiedlerkrebs?«
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