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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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gesehen.
    Es gab kein Oben und Unten – das war die erste und verwirrendste Feststellung. Die virtuellen Strukturen von TreeHouse schlossen in jedem erdenklichen Winkel aneinander an. Einen Horizont gab es auch nicht. Das wirre Ineinander gebäudeähnlicher Formen erstreckte sich endlos in alle Richtungen. Es kam Renie vor, als stände sie in der imaginären Mitte einer Escher-Graphik. Sie sah ein leeres Blau, das Himmel bedeuten konnte, zwischen einigen der kuriosen Strukturen hindurchleuchten, aber die Farbe konnte genauso gut unter ihren Füßen erscheinen wie über ihrem Kopf. An anderen Stellen waren die Lücken mit Regenwolken oder Schneegestöber gefüllt. Viele der Strukturen schienen virtuelle Wohnhäuser jeder erdenklichen Größe und Form zu sein, riesige vielfarbige Wolkenkratzer gekreuzt wie Schwerter im Duell, Haufen rosiger Blasen, sogar ein leuchtender orangeroter Pilz von der Größe einer Flugzeughalle, Türen und Fenster inbegriffen. Ein paar davon flossen in andere Formen über, während sie noch hinschaute.
    Es gab auch Leute oder Dinge, die Leute sein konnten – es war schwer zu sagen, da die Bekörperungsvorschriften des Netzes hier anscheinend außer Kraft gesetzt waren –, aber es gab andere bewegte Dinge, auf die die Bezeichnung »Objekt« kaum zutraf, Farbwellen, Interferenzstreifen, wirbelnde Galaxien pulsierender Tupfen.
    »Das … das ist der helle Wahnsinn!« sagte sie. »Was ist das alles?«
    »Das sind die Gestalten, die die Leute hier sich geben wollen.« Martines Stimme, sonst eher ein Anlaß zur Verstimmung, war jetzt in diesem ganzen Irrsinn etwas wunderbar Vertrautes. »Sie haben alle Regeln über Bord geworfen.«
    !Xabbu gab einen verdutzten Laut von sich, und Renie drehte sich um. Ein schwebender Schleppkahn in einem Leopardenfell war plötzlich neben ihm erschienen. Eine Figur, die aussah wie eine Stoffpuppe, beugte sich aus der Kapitänskajüte, betrachtete sie einen Moment und schrie dann etwas in einer Sprache, die Renie nicht verstand. Der Schlepper verschwand.
    »Was war das?« fragte Renie.
    »Ich weiß es nicht.« Ihre unsichtbare Begleiterin klang leicht belustigt. »Irgend jemand, der sich die Neuankömmlinge angucken wollte. Ich kann die hier gesprochenen Sprachen von meinem System übersetzen lassen, aber das würde eine Menge Verarbeitungsenergie beanspruchen.«
    Ein schrilles Kreischen erscholl über dem gedämpften Gebrabbel in den Kopfhörern, schwoll an und verklang dann. Renie schaute gequält. »Ich … wie sollen wir hier irgendwas finden? Das ist ja verrückt!«
    »Es gibt durchaus Möglichkeiten, in TreeHouse sinnvoll zu arbeiten, und es ist nicht überall so«, versicherte ihr Martine. »Wir werden uns einen der ruhigeren Orte suchen – dieser hier ist öffentlich, so etwas wie ein Park. Geht los, und ich lenke euch.«
    Renie und !Xabbu steuerten eine der Lücken zwischen den Gebäuden an, wobei sie über eine Schar tanzender, paisleygemusterter Mäuse hinwegstiegen und anschließend so etwas wie einer riesigen Zunge auswichen, die aus einer schwitzenden Hauswand hervorstand. Auf Martines Drängen hin machten sie schneller, und das bizarre Formengewirr verschwamm. Trotz ihres raschen Vorankommens bewegten sich einige Dinge genauso schnell wie sie – TreeHouse-Bewohner, vermutete Renie, die einen Blick auf sie werfen wollten. Diese Neugierigen erschienen in einer derart absonderlichen und beängstigenden Vielfalt von Formen und Effekten, daß Renie es nach einer Weile nicht mehr aushielt, ihre Blicke zu erwidern. Ein wüstes Tongebrodel ergoß sich in den Pausen zwischen Martines Anweisungen über sie, zum Teil eindeutig Begrüßungen.
    Renie blickte besorgt zu !Xabbu hinüber, aber der Sim des kleinen Mannes schaute interessiert hin und her wie ein Tourist bei seinem ersten Großstadtbesuch. Er wirkte nicht sonderlich verstört.
    Eine riesige rote Blume, die sie nicht kannte, hing groß wie ein Kaufhaus kopfunter vor ihnen. Martine wies sie an zu bremsen, dann stiegen sie von unten in die Blütenblätter empor. Als der Wald purpurroter Fahnen sich um sie schloß, verstummte das Geplapper in ihren Kopfhörern.
    Etwas weiter oben ging vor ihnen eine Schrift an, eine Begrüßung in mehreren Sprachen. Sie lautete: »Dies ist unser Eigentum. Wer hier eintritt, unterliegt unseren Regeln, die so aussehen, wie wir sie zu dem Zeitpunkt gerade haben wollen. Die meisten betreffen das Respektieren von anderen Leuten. Die Eintrittserlaubnis kann ohne Ankündigung

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