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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Nur wer die Leiter schon einmal hochgestiegen ist, weiß, wie man sie findet.«
    !Xabbu brach auf einmal sein Schweigen. »Dann bist du schon einmal in diesem TreeHouse gewesen?«
    »Allerdings, aber als Gast. Ich werde euch mehr erzählen, aber jetzt denkt bitte daran, daß wir uns an einem öffentlichen Ort befinden. Dies ist eine richtige Datenbank, nur mit einer Verbindung zu der Leiter, wenigstens heute – wenn ihr morgen zu diesem Knoten zurückkämt, bezweifele ich, daß die Verbindung noch bestehen würde. Aber jedenfalls könnte jederzeit jemand mit einem normalen geschäftlichen Anliegen hierherkommen. Tretet hindurch.«
    »Durch dieses Fenster?« fragte Renie.
    »S’il vous plaît. Bitte. Es droht keine Gefahr auf der anderen Seite.«
    Renie bewegte ihren Sim durch das Datenfenster. !Xabbu folgte ihr in einen virtuellen Raum, der noch detailärmer war als der, den sie gerade verlassen hatten, einen größeren Würfel von nahezu reinem Weiß. Das Fenster schloß sich wie eine Irisblende, und sie standen allein in dem konturlosen Kubus: die blaue Kugel war nicht mitgekommen.
    »Martine!«
    »Ich bin hier«, sagte die körperlose Stimme.
    »Aber wo ist dein Sim?«
    »Ich brauche hier keinen Sim – die unterste Sprosse der Leiter, wie TreeHouse überhaupt, unterliegt nicht mehr den Gesetzen des Netzes. Bekörperung ist nicht zwingend vorgeschrieben.«
    Renie fiel die Frage ihres Freundes nach Geistern wieder ein, und obwohl es durchaus einzusehen war, daß Martine Lust hatte, einer der lästigen Vorschriften des Netzlebens zu entkommen, verspürte sie doch eine gewisse Beklemmung. »Müssen !Xabbu und ich irgendwas machen?«
    »Nein. Ich habe … einen Gefallen gut, kann man das sagen? Ich habe die Erlaubnis, wiederzukommen, und zudem das Recht, eigene Gäste mitzubringen.«
    Die weißen Wände lösten sich abrupt auf oder vielmehr etwas anderes ging aus ihnen hervor. Der leere Raum gewann Gestalt und Tiefe. Bäume, Himmel und Erde schienen sich in Sekundenschnelle aus unsichtbaren Atomen zu bilden. Renie und !Xabbu standen vor einem Teich, auf dem eine Laubschicht schwamm und der von einer Eichengruppe umgeben war. Martine, falls noch anwesend, war unsichtbar. Der sich grenzenlos über den Ästen erstreckende Himmel war sommerblau, und alles war von einem warmen, butterigen Licht durchflutet. Ganz in der Nähe zwischen zwei großen Wurzeln, den Rücken an einen Baumstamm gelehnt und mit den nackten Füßen im Wasser baumelnd, saß gemütlich ein kleiner europider Junge. Er hatte einen Overall an, einen zerbeulten Strohhut mit umgebogener Krempe auf und ein schläfriges, zahnlückiges Lächeln im Gesicht.
    »Ich habe die Erlaubnis, TreeHouse zu besuchen«, sagte Martine.
    Den Jungen schien die körperlose Stimme nicht im geringsten zu überraschen. Er warf Renie und !Xabbu einen schrägen Blick zu und streckte dann gemächlich eine Hand in die Höhe, als ob er einen Apfel pflücken wollte. Eine Strickleiter purzelte aus den Ästen über ihm. Sein Grinsen wurde breiter.
    »Nur zu«, sagte Martine.
    !Xabbu ging als erster. Renie war sicher, daß er genauso geschickt klettern würde wie im wirklichen Leben. Sie folgte ihm etwas langsamer, überwältigt von den Erlebnissen des Tages und halb von Furcht erfüllt, was wohl als nächstes geschehen würde. Gleich darauf waren der Teich und der Wald verschwunden, und sie war völlig von Schatten umschlossen. Sie kletterte immer noch, aber sie hatte nichts zum Greifen in den Händen und nicht das Gefühl, daß sie fallen könnte. Sie hielt an und wartete.
    »Wir haben TreeHouse erreicht«, verkündete Martine. »Ich lege uns auf eine Privatleitung, die parallel zur Hauptsprechleitung läuft, sonst werden wir Mühe haben, uns zu verstehen.«
    Bevor Renie fragen konnte, was sie damit meinte, verflog die Dunkelheit ringsherum abrupt, und die Welt schien ins Chaos zu stürzen. Ein infernalisch lautes Babel gellte ihnen in den Ohren – Musik, Redefetzen in verschiedenen Sprachen, undefinierbare Geräusche, als ob sie und ihre Begleiter in einem Kurzwellenradio zwischen den Kanälen steckten. Sie stellte ihr ganzes System leiser, so daß der Krach nur noch ein kakophones Raunen war.
    !Xabbus Stimme drang ihr auf dem Privatband der Französin deutlich ans Ohr. »Was du mir für Anblicke bescherst, Renie. Sieh nur!«
    Sie hätte nichts anderes tun können. So etwas wie das visuelle Environment, das urplötzlich die Dunkelheit vertrieben hatte, hatte sie noch nie

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