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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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nannten. Die Abstandswarnlichter des anderen Autos flammten so blitzschnell auf, wie eine Kobra ihren Hals aufspreizte.
    »Vivien, du bist bei Rot drübergefahren!«
    »Wir sind gleich da.«
    Orlando drehte sich um und schaute aus dem Heckfenster. Der junge Mann stand an der Ecke und starrte ihnen mit wehendem Mantel hinterher. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen wartete er auf den Rest der Parade.
     
    »Alles in allem finde ich, du machst dich ganz gut. Die neuen Entzündungshemmer scheinen anzuschlagen.« Doktor Vanh stand auf. »Nur dieser Husten gefällt mir nicht. Hast du ihn schon lange?«
    »Nein. Er ist nicht so schlimm.«
    »Gut. Aber wir behalten ihn im Auge. Ach, und ich fürchte, wir müssen dir nochmal Blut abzapfen.«
    Orlando versuchte zu lächeln. »Du hast eh schon das meiste. Da kannst du den Rest auch haben.«
    Doktor Vanh nickte anerkennend. »So lob ich’s mir.« Er bedeutete Orlando mit seiner zierlichen Hand, auf dem Tisch zu bleiben. »Die Schwester kommt sofort. Ach, laß mich mal diese Pflasterstellen angucken.« Er drehte Orlandos Arm um und betrachtete ihn. »Bekommst du immer noch Ausschläge?«
    »Nicht so schlimm.«
    »Gut. Das hört man gern.« Er nickte abermals. Es war Orlando immer wieder ein Rätsel, wie solche heiteren Bemerkungen zu dem dünnen, traurigen Gesicht des Arztes paßten.
    Während Doktor Vanh am Pad auf dem Ecktisch etwas überprüfte – man hütete sich hier davor, Wandbildschirme zu benutzen, auf denen die Patienten hätten mitlesen können –, kam eine Schwester namens Desdemona herein und nahm Orlando etwas Blut ab. Sie war hübsch und sehr höflich; sie wurde regelmäßig gerufen, weil man hoffte, in ihrer Gegenwart würde er sich nicht anstellen. Die Rechnung ging auf. Obwohl er müde und von Schmerzen geplagt und der Nadeln gründlich überdrüssig war, biß er die Zähne zusammen und hielt durch. Er brachte sogar eine schwache Erwiderung auf Desdemonas fröhliches »Tschüs!« heraus.
    »Wie fühlst du dich, Orlando?« fragte seine Mutter. »Kannst du allein ins Wartezimmer gehen? Ich möchte noch kurz mit Doktor Vanh reden.«
    Er zog ein Gesicht. »Ja, Vivien. Ich denke, ich kann mich den Korridor langschleifen.«
    Sie bedachte ihn mit einem nervösen Lächeln, das zeigen sollte, daß sie den Witz witzig fand, obwohl es nicht stimmte. Der Arzt half ihm vom Tisch. Er machte sich auf dem Weg zur Tür selbst das Hemd zu und winkte trotz der schmerzhaften Steifheit in den Fingern ab, als Vivien ihm zur Hand gehen wollte.
    Er blieb einen Moment am Trinkwasserspender stehen, um sich auszuruhen. Als er zurückblickte, konnte er durch das winzige Fenster in der Tür des Behandlungszimmers den Kopf seiner Mutter sehen. Sie hörte sich irgend etwas an, die Stirn in Falten gelegt. Er wollte zurückgehen und ihr sagen, daß dieses ganze Geflüster und Heimlichtun überflüssig war, daß er mehr über seinen Zustand wußte als sie. Außerdem war er ziemlich sicher, daß sie das wußte. Ein Supernetboy zu sein, hatte mehr zu besagen, als daß man haufenweise Monster in Fantasy-Simwelten umbringen konnte – er konnte, wenn er wollte, jederzeit medizinische Mediatheken in Universitäten und Krankenhäusern auf der ganzen Welt zu Rate ziehen. Seine Mutter konnte nicht wirklich annehmen, daß er sich nicht über seinen eigenen Fall informieren würde, oder doch? Vielleicht war das einer der Gründe, weshalb sie ihm ständig in den Ohren lag, er würde zu viel Zeit im Netz verbringen.
    Sicher, da konnte was dran sein. Vielleicht konnte man wirklich zu viele Informationen haben. Eine Zeitlang hatte er sich angewöhnt, seine eigene Krankenakte in den Klinikunterlagen zu lesen, aber irgendwann hatte er damit aufgehört. VR-Todestrips waren eine Sache, RL eine andere – vor allem wenn es das eigene RL war.
    »Schließlich können sie keine Wunder vollbringen, Vivien«, murmelte er, dann stieß er sich von dem Wasserspender ab und setzte seinen langsamen Gang den Flur entlang fort.
     
     
    > Beezle piepte ihn fünf Minuten vor dem verabredeten Anruftermin an. Überrascht und ein wenig desorientiert setzte er sich im Bett auf. Die neue T-Buchse war so bequem, daß er sie völlig vergessen hatte und mit ihr eingeschlafen war.
    »Der Anruf«, sagte Beezle in sein Ohr.
    »Gut. Gib mir einen von den Standardsims, dann stell durch.«
    Er schloß die Augen. Der Bildschirm hing in der Dunkelheit hinter seinen Lidern, denn über die Telematikbuchse wurde er direkt in seine

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