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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Plastikplanen. Als die Masse der Besitzlosen auf den Flecken unter den Betontrassen immer dichter wurde, zogen später Dazukommende einfach nach oben, wo sie Frachtnetze, Planen und Fallschirme aus alten Armeebeständen an den Pfeilern und Unterseiten der Freeways befestigten. Seilbrücken verbanden bald die Notbehausungen miteinander, und Leitern führten vom Shantytown auf dem Boden zu dem, das sich darüber ausbreitete. Obdachlose Handwerker und Amateuringenieure zogen Zwischenebenen ein, bis fast unter jedem Freeway und jedem Aquädukt ein mehrgeschossiger Slum verlief.
    Da die Sonne fast den Mittagspunkt erreicht hatte, war es unter dem Highway 92 dunkel, aber in der Flickwerkstadt herrschte reges Leben. Orlando ließ das Fenster hinunter, um besser sehen zu können. Zwanzig Meter über ihm jagten sich Kinderhorden über eine ausgedehnte Netzkonstruktion. Sie sahen wie Eichhörnchen aus, flink und unerschrocken, und er beneidete sie. Dann erinnerte er sich an ihre Armut, an die überfüllten und unhygienischen Verhältnisse und an die Gefahren, die allein schon die Lebensumstände mit sich brachten. Neben Gewalttätigkeiten, die den städtischen Armen immer drohten, mußten die Bewohner der Hängemattensiedlungen sich auch gegen die Schwerkraft behaupten: Es verging kein Tag, ohne daß jemand auf einen Freeway fiel und überrollt wurde oder in einer Wasserstraße ertrank. Erst voriges Jahr hatte das Wabendorf Barrio Los Moches durch sein bloßes Gewicht einen Abschnitt des San Diego Freeway zum Einsturz gebracht, wodurch Hunderte von Bewohnern und viele Autofahrer ums Leben gekommen waren.
    »Orlando? Warum ist das Fenster auf?«
    »Ich schau nur raus.«
    »Mach es zu. Es gibt keinen Grund, es aufzuhaben.«
    Orlando ließ das Fenster wieder hoch, und damit blieben die Kinderstimmen und der größte Teil des Sonnenscheins auf der anderen Seite des Rauchglases.
    Sie schlichen den Camino Real hinunter, die breite Hauptstraße voller Neo-Neon- und holographischer Reklametafeln, die sich von San Francisco fünfzig Meilen weit die Halbinsel hinunterzog. Auf den Bürgersteigen wimmelte es von Menschen, die anscheinend zur Hälfte in den Hauseingängen lebten oder in losen Gruppen um die abgeschlossenen, nur mit Karte zu öffnenden Bushaltestellen herumlungerten. Orlandos Mutter fuhr hektisch, obwohl sie von Scharen kleinerer Roller, Mopeds und Miniautos eingekeilt war. Fußgänger schlenderten an den Kreuzungen langsam vorbei und musterten die Isolierglasscheiben im Wagen der Gardiners mit den berechnenden Mienen von Ladendieben, die nicht ahnten, daß sie auf dem Bildschirm der Überwachungsanlage beobachtet wurden.
    Vivien trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad, als sie schon wieder an einer Ampel anhalten mußte. Eine Gruppe junger Chicanomänner stand in einem lockeren Kreis an der Ecke, die Goggles hochgeschoben, so daß es aussah, als ob sie ein zweites Paar Augen hätten. Selbst in der hellen Sonne pulste deutlich Licht über ihre Gesichter, obwohl die Implantate – feine Röhrchen mit chemischem Neon in Kriegsbemalungsmustern unter der Haut – bei Nacht unter den dunklen Hochstraßen viel eindrucksvoller waren.
    Orlando hatte seine Eltern mit einer Mischung aus Furcht und mythenspinnendem Behagen über Goggleboys reden hören. Zum Beispiel hatten sie behauptet, diese hätten die typischen Brillen deswegen auf, um sich damit vor Abwehrsprays zu schützen, wenn sie Leute überfielen, aber Orlando erkannte die meisten der angeblichen Schutzbrillen als protzige, aber schwache VR-Teile, die nicht viel mehr taugten als altmodische Walkie-Talkies. Es war ein Trend, die reine Schau, so zu tun, als müßte man jeden Moment einer virtuellen Besprechung beiwohnen oder einen wichtigen Anruf entgegennehmen, doch bis dahin hing man einfach an der Straßenecke herum.
    Einer der jungen Männer löste sich von der Gruppe und ging auf den Fußgängerüberweg zu. Sein langer Mantel aus tiefrotem Fallschirmstoff flatterte hinter ihm im Wind wie eine Fahne. Die Tätowierung einer Kette fing neben der Schläfe am Haaransatz an und lief bis zum Kieferknochen hinunter, und alle paar Sekunden, wenn die Implantate unter der Haut pulsten, stach sie dunkler hervor. Er lächelte, als müßte er gerade an etwas Lustiges denken. Bevor er ihr Auto erreichte – bevor zu erkennen war, ob er überhaupt auf ihr Auto zuging –, gab Vivien bei Rot Gas und verfehlte haarscharf eines der Schlachtschiffe, die sich euphemistisch »Family Wagon«

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