Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
weit entfernt vom Mittelpunkt der Diskussion, obgleich jede Stimme dennoch ausgezeichnet hörbar war. Das Amphitheater, vermutete Orlando, war wohl einem Vorbild aus dem alten Griechenland oder Rom nachgebildet, denn es bestand ganz aus bleichem, malerisch verwittertem Stein. Vom sonstigen TreeHouse-Chaos war hier nichts zu sehen, denn das Amphitheater lag unter seiner eigenen blauen Himmelskuppel. Eine trübe rötliche Sonne hing tief am Horizont und warf lange Schatten über die Reihen.
Die Schatten der Diskussionsteilnehmer waren mehr oder weniger humanoid. Die vier oder fünf Dutzend Ingenieure und Programmierer schienen genau wie der geheimnisvolle Mann, der Orlando und Fredericks nach TreeHouse gebracht hatte, an extravaganter Aufmachung nicht so interessiert zu sein wie die übrigen Bewohner. Die meisten trugen ganz einfache Sims, die nicht lebensähnlicher waren als Testpuppen. Andere gaben sich überhaupt nicht mit Sims ab und waren nur durch kleine Lichtpunkte oder simple Icon-Objekte, die ihre Position anzeigten, als anwesend zu erkennen.
Nicht alle waren so langweilig funktional. Ein riesiger glitzernder Vogel aus Golddraht, ein buntkarierter Eiffelturm und drei kleine Hunde in Weihnachtsmannkostümen gehörten zu den lautstärksten Rednern.
Die Unterhaltungen faszinierten Orlando, obwohl er sie schwer zu verstehen fand. Dies war hohe Programmierkunst, debattiert von einer überaus unorthodoxen Gruppe von Häckern, vermischt mit TreeHouse-Sicherheitsthemen und allgemeinen Systembetriebsfragen für den ganzen Renegatenknoten. Man kam sich ein wenig vor, als hörte man Leute in einer Sprache, die man nur kurz in der Mittelstufe gehabt hatte, über Existenzphilosophie streiten.
Aber genau hier gehöre ich hin, dachte er. Genau das will ich machen. Eine jähe Traurigkeit darüber befiel ihn, daß seine Ausbildung bei Indigo Gear und erneute Abstecher nach TreeHouse so geringe Chancen hatten.
»Mein Gott«, stöhnte Fredericks. »Das ist ja wie ’ne Sitzung vom Studentenausschuß. Können wir nicht einfach unsere Fragen loswerden und abhauen? Sogar die fliegenden Affenzwerge waren interessanter als das hier.«
»Ich erfahre hier durchaus etwas …«
»Ja, aber nicht darüber, was wir wissen müssen. Komm, Gardiner, wir haben nur noch ein paar Stunden Zeit, und ich dreh langsam hohl.« Fredericks stand abrupt auf und schwenkte einen seiner stämmigen Simarme, als ob er ein Taxi herbeiwinken wollte. »Entschuldigung! Entschuldigung!«
Die Diskussionsgruppe wandte sich der Ursache der Störung mit der Geschlossenheit eines Schwarms Schwalben zu, die sich in den Wind drehten. Der Eiffelturm, der soeben etwas Kontroverses über visuelle Informationsprotokolle ausgeführt hatte, brach ab und blickte finster – sofern ein großes buntkariertes Bauwerk finster blicken konnte. Auf jeden Fall sah er nicht wie ein fröhliches Bauwerk aus.
»Okay«, sagte Fredericks. »Ihre Aufmerksamkeit haben wir. Jetzt kannst du sie fragen.«
Orlandos eingespielte Thargorreflexe drängten ihn dazu, Fredericks mit einem schweren Gegenstand den Schädel einzuschlagen. Statt dessen erhob er sich, und zum erstenmal war ihm bewußt, wie … unreif der Thargorkörper wirkte. »Ähm … tut mir leid, daß mein Freund euch unterbrochen hat«, sagte er. »Wir sind Gäste, und unsere Zeit läuft ab, und wir hätten ein paar Fragen, die wir gern beantwortet hätten, und … und jemand hat uns zu diesem Treffen geschickt.«
Einer der Lichtpunkte glitzterte ärgerlich. »Wer zum Teufel seid ihr?«
»Bloß … bloß zwei Jungen.«
»Machst du prima, Gardino«, flüsterte Fredericks aufmunternd.
»Sei still.« Er holte tief Luft und fing noch einmal an. »Wir wollten bloß was über so’n Gear erfahren – ’ne Software. Wir haben gehört, daß die Leute, die daran gearbeitet haben, hier zu finden wären.«
In der Programmierergruppe entstand ein leises gereiztes Raunen. »Wir möchten nicht gestört werden«, sagte jemand mit einem unverkennbar deutschen Akzent.
Einer der rudimentäreren Sims stand auf und streckte die Hände aus, wie um die Menge zu beruhigen. »Sagt uns einfach, was ihr wollt«, ließ sich die möglicherweise weibliche Stimme vernehmen.
»Tja, äh, ein Gear, das zuletzt in einem Monster in der Simwelt Mittland war – das Monster war ein Roter Greif, um genau zu sein –, ist nach sämtlichen InPro-Datenbanken auf jemand zugelassen, der Melchior heißt.« Es gab eine kurze, aber verhaltene Reaktion, als ob der
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