Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
rein.«
»Das heißt, wir sind verätzt.«
»Ich weiß nicht. Ich denke, wir müssen uns einfach umhören. Vielleicht kann uns von den Eingeborenen jemand helfen.«
»Klasse, Gardino. Was sollen wir machen? Ihnen anbieten, sie zu heiraten, wenn sie uns einen Gefallen tun?«
»Vielleicht. Ich dachte, diese Schildkrötenfrau da wäre irgendwie dein Stil.«
»Block dich.«
Eine Folge musikalischer Töne drang durch den gedämpften Tumult. Orlando drehte sich um und sah hinter ihnen einen wirbelnden gelben Tornado in der Luft stehen. Die Tonfolge wiederholte sich immer höher, so daß es wie eine Frage klang.
Orlando war sich der TreeHouse-Sitten nicht ganz sicher. »Äh … können wir irgendwie helfen?«
»Englisch«, sagte eine Stimme. Sie war hoch und klang leicht metallisch. »Nein. Wir helfen?«
»Was ist das?« fragte Fredericks besorgt.
Orlando winkte ihm, sich abzuregen. »Das wäre nett. Wir sind neu hier – Gäste. Wir versuchen, bestimmte Informationen zu bekommen, jemand zu finden.«
Der gelbe Tornado verlangsamte seine Drehung und löste sich in eine Wolke gelber Äffchen auf, von denen keines länger als ein Finger war. »Mal sehn. Wir helfen gern. Heißen Böse Bande.« Einer der Affen flog näher und deutete mit einem winzigen Händchen auf sich. »Ich Zunni. Andere Böse Bande – Kaspar, Ngogo, Masa, ’Suela …« Zunni nannte noch ein gutes Dutzend. Jeder Affe winkte und deutete auf sich, wenn die Reihe an ihn kam, und machte dann wieder Luftwirbelfaxen.
»Wer seid ihr?« fragte Orlando lachend. »Ihr seid Kinder, stimmt’s? Kleine Kinder?«
»Nein, nix kleine Kinder«, sagte Zunni ernst. »Wir sind die Böse Bande. Kultimultis Nummer eins.«
»Zunni sagt das, weil sie die Jüngste ist«, erklärte einer der anderen Affen – Orlando dachte, es könnte der sein, der Kaspar hieß, aber sie sahen alle gleich aus, deshalb war das schwer zu sagen. Sein Englisch hatte zwar einen Akzent, war aber ansonsten sehr gut. »Aber ein Multikulticlub sind wir wirklich«, fuhr Kaspar fort. »Bist du zehn, fliegst du raus.«
»Böse Bande faltenfrei!« schrie eines der anderen Äffchen, und sie drehten sich lachend um Orlando und Fredericks im Kreis. »Böse Bande! Club mejor! Stärkste, stärkste Bande!« sangen sie.
Orlando hob die Hände, aber langsam, um keines zu stoßen. Er wußte, daß die winzigen Körper nur Sims waren, aber er wollte sie nicht beleidigen. »Könntet ihr uns helfen, jemand zu finden? Wir sind hier fremd, und wir wissen nicht weiter.«
Zunni schälte sich aus der Gruppe heraus und schwebte vor seiner Nase. »Wir helfen. Bande weiß alles, kennt alles.«
Sogar Fredericks mußte grinsen. »Gerettet von fliegenden Affen«, sagte er.
Die Böse Bande erwies sich in der Tat als hilfreich. Kinder schienen in TreeHouse Narrenfreiheit zu haben und mehr oder weniger überall hingehen zu dürfen, wo sie wollten. Da es hier so leicht war, für sich allein zu sein, vermutete Orlando, daß jemand, der für andere sichtbar blieb, wohl tatsächlich Teil der Gemeinschaft sein wollte. Die Bande schien die meisten der Hunderte von TreeHouse-Bewohnern zu kennen, die ihnen in den ersten zwei Stunden über den Weg liefen. Orlando genoß das Erlebnis und wünschte sich mehrmals, er hätte die Muße für ein richtiges Gespräch, auch wenn keiner seiner neuen Bekannten ihm sagen konnte, was er wissen wollte.
Hier könnte ich ewig bleiben, dachte er. Wieso bin ich vorher noch nie hier gewesen? Warum hat mich nie jemand hierhergebracht?
Er unterdrückte seinen aufkeimenden Groll mit der Erkenntnis, daß die TreeHouse-Gemeinschaft unter anderem wohl deswegen bestehen konnte, weil sie nur ein Tümpel am Rand des großen Netzozeans war: Die anarchische Strukturlosigkeit funktionierte nur, weil sie sich abkapselte. Und was war die Moral davon? Daß man den meisten Leuten nicht trauen konnte, wenn man etwas am Leben erhalten wollte? Er war sich nicht sicher.
Geführt von der Bösen Bande lernten sie die Vielfalt von TreeHouse genauer kennen. Länger, als sie vorgehabt hatten, sahen sie zu, wie eine Gruppe Fruchtgummisoldaten eine erbitterte Schlacht auf einem Marzipanfeld austrug. Kanonen beschossen die Zinnen einer Toffeeburg mit Marshmallows. Klebrige Männchen kämpften sich durch Fondantsümpfe und über Stacheldrahtsperren aus Zuckerwatte. In der Hitze des Gefechts schmolzen und knickten Piken und Bajonette aus Schokolade. Die Affen mischten ihrerseits fröhlich mit und warfen Soldaten, die
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