Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
sterbenden Reitern, die zu Boden rasseln.
Wir, die beim Cromlech dienen noch, dem grauen Cairn
Am Uferhügel, müd der Welt und Macht und Gier,
Neigen uns, wenn der Tag im Tau versinkt, vor dir,
O Herr der Flammentüre und der stillen Stern’.
William Butler Yeats
Kapitel
Unter zwei Monden
NETFEED/GESUNDHEIT:
Schäden durch »Charge« vielleicht heilbar
(Bild: Charge-User an einer Marseiller Straßenecke)
Off-Stimme: Die Clinsor-Gruppe, eines der weltweit größten Unternehmen auf dem Gebiet der medizinischen Technik, gab bekannt, daß sie demnächst eine Therapie gegen die Suchtschäden durch Tiefenhypnose-Software, von ihren Benutzern »Charge« genannt, auf den Markt bringen wird.
(Bild: Clinsor-Laboratorien, Versuche an Freiwilligen)
Die neue Methode, der die Erfinder den Namen NRP oder »neuronale Reprogrammierung« gegeben haben, regt das Gehirn dazu an, neue synaptische Bahnen als Ersatz für diejenigen zu finden, die durch übermäßigen Chargegebrauch Schaden genommen haben …
> Das goldene Licht wurde Schwärze und Lärm.
Irgend etwas zerquetschte ihn. Er trat zu, aber es gab nichts, wogegen er hätte treten können. Endlose Sekunden strampelte und schlug er hilflos um sich. Dann stülpte sich wieder die Welt über seinen Kopf, und er saugte Luft in seine stechenden Lungen und mühte sich nach Kräften, den Kopf über Wasser zu halten und an der schönen, wunderbaren, silbersüßen Nachtluft zu bleiben.
Der kleine Gally, den er fest im Arm hielt, spuckte Wasser und holte würgend Atem. Paul lockerte seinen Griff und schob den Jungen auf Armlänge von sich, damit er sie beide mit seinem anderen Arm oben halten konnte. Das Wasser hier war ruhiger als an der Stelle, wo sie in den Fluß gesprungen waren. Vielleicht waren sie von der scharlachroten Frau und dem gräßlichen Ungetüm weggetrieben.
Aber konnten sie so lange unter Wasser gewesen sein, daß es in der Zwischenzeit Nacht geworden war? Gerade eben war es erst später Nachmittag gewesen, und jetzt war der Himmel, abgesehen von den Streuseln der Sterne, dunkel wie eine Manteltasche.
Es hatte keinen Zweck, den Verstand darüber zu zermartern. Paul sah ein schwaches Licht von dort, wo das Ufer sein mußte. Er zog Gally wieder zu sich und sprach ganz leise auf ihn ein, denn er befürchtete, ihre schrecklichen Verfolger könnten irgendwo in der Nähe sein. »Hast du wieder Atem? Kannst du ein wenig schwimmen?« Als der Junge nickte, tätschelte Paul seinen triefenden Kopf. »Gut. Schwimm vor mir her auf das Licht zu. Wenn du zu müde wirst oder einen Krampf bekommst, hab keine Angst – ich bin direkt hinter dir.«
Gally warf ihm aus großen Augen einen unergründlichen Blick zu und begann dann auf das ferne Leuchten zuzupaddeln. Paul kam mit langsamen Zügen hinter ihm her, die sich eigenartig natürlich anfühlten, als ob es einmal eine Zeit gegeben hätte, in der er das häufig getan hatte.
Die Wellen waren flach und ruhig, die Strömung ganz gering. Paul spürte, wie er sich leicht entspannte, während er in den Rhythmus seiner Bewegungen fiel. Der Charakter des Flusses hatte sich gegenüber vorhin, als sie hineingelaufen waren, völlig verändert: Das Wasser war geradezu angenehm warm und hatte einen süßlichen, würzigen Duft. Er überlegte kurz, wie es wohl zu trinken wäre, aber fand dann, daß er sich auf so ein Abenteuer besser erst einlassen sollte, wenn sie sicher an Land waren. Wer konnte wissen, wie anders die Dinge hier sein mochten?
Als sie näher an das Licht herankamen, sah Paul, daß es eine hohe Flamme wie ein Scheiterhaufen oder ein Signalfeuer war. Sie brannte nicht am Ufer, sondern auf einem pyramidenförmigen Umriß auf einer steinernen Insel. Die Insel selbst war nur ein paar Dutzend Meter lang, und vom Fuß der Pyramide führten steinerne Stufen bis hart an den Rand des Wassers. Hinter der Pyramide, am anderen Ende der Insel, stand ein weiteres Steinbauwerk, umgeben von einem kleinen Hain.
Als sie schon ziemlich nahe waren, schoß Gally auf einmal wild um sich schlagend hoch. Paul kraulte rasch heran und legte einen Arm um die dünne Brust des Jungen.
»Hast du einen Krampf?«
»Da ist was im Wasser!«
Paul blickte sich um, aber abgesehen von den zerreißenden Spiegelungen der Flamme sah die Oberfläche ungebrochen aus. »Ich sehe nichts. Komm, wir sind so gut wie da.«
Er trat kräftig aus, um sie voranzutreiben, und dabei rempelte etwas schwer an seine Schienbeine. Paul gab einen
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