Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
ja auf keine Bürgersteigritzen zu treten, dann bog sie in die Redland Road ein. Die Häuser hier waren deutlich kleiner als ihres. Einige sahen ein wenig traurig aus. Das Gras auf den Rasen war kurz wie überall auf dem Stützpunkt, aber das schien hier daher zu kommen, daß es nicht genug Kraft hatte, um höher zu wachsen. Manche Rasen hatten kahle Stellen, und viele Häuser waren schmuddelig und ein bißchen ausgeblichen. Sie wunderte sich, daß die Leute, die darin wohnten, sie nicht einfach abwuschen oder strichen, damit sie wieder wie neu aussahen. Wenn sie eines Tages ein eigenes Haus hatte, würde sie es jede Woche in einer anderen Farbe streichen.
Den ganzen Weg die Redland Road hinunter dachte sie über verschiedene Farben für Häuser nach, dann hüpfte sie wieder, als sie die Fußbrücke über den Fluß überquerte – sie mochte das Kawumm, Ka-wumm dabei –, und eilte den Beekman Court hinunter, wo die Bäume sehr dicht standen. Obwohl Herrn Sellars’ Haus ganz in der Nähe des Zaunes war, der die Grenze des Stützpunkts markierte, war das kaum zu erkennen, weil die Bäume und Hecken einem die Sicht versperrten.
Das war natürlich das erste gewesen, was sie zu dem Haus hingezogen hatte – die Bäume. Im Garten hinter dem Haus ihrer Eltern wuchsen Platanen und neben dem Fenster zur Straße eine Birke mit papierener Rinde, aber Herrn Sellars’ Haus war rundherum von Bäumen umgeben, von so vielen Bäumen, daß man das Haus dazwischen kaum erkennen konnte. Als sie es zum erstenmal gesehen hatte – das war, als sie Ophelia Weiner ihre entlaufene Katze Dickens hatte suchen helfen –, hatte sie gefunden, daß es genau wie ein Haus im Märchen wirkte. Als sie später wiedergekommen und die gewundene Kiesauffahrt hinaufgegangen war, hatte sie beinahe erwartet, daß es aus Pfefferkuchen war. Das war es natürlich nicht – es war einfach ein kleines Haus wie alle anderen –, aber es war dennoch ein sehr interessanter Ort.
Und Herr Sellars war ein sehr interessanter Mann. Sie wußte nicht, warum ihre Eltern nicht wollten, daß sie zu ihm nach Hause ging, und sie sagten es ihr auch nicht. Er sah ein wenig gruselig aus, aber das war ja nicht seine Schuld.
Christabel hörte zu hüpfen auf, damit sie das knirschige Gefühl beim Gehen auf Herrn Sellars’ langer Auffahrt besser auskosten konnte. Es war ziemlich unsinnig, daß es überhaupt eine Auffahrt gab, denn das große Auto in seiner Garage war seit Jahren nicht mehr gefahren worden. Herr Sellars ging ja nicht einmal vor die Tür. Sie hatte ihn einmal gefragt, warum er ein Auto besitze, und er hatte irgendwie traurig gelacht und gesagt, es sei beim Haus mit dabeigewesen. »Wenn ich ganz, ganz brav bin«, hatte er zu ihr gesagt, »lassen sie mich eines Tages vielleicht in diesen Cadillac steigen, kleine Christabel. Dann mache ich das Garagentor ganz fest zu und fahre nach Hause.«
Sie hatte das für einen Witz gehalten, aber ganz verstanden hatte sie ihn nicht. Erwachsenenwitze waren manchmal so, und andererseits lachten Erwachsene selten über die Witze, die Onkel Jingle in seiner Netshow machte, und dabei waren die so lustig (und ziemlich frech, obwohl sie nicht genau wußte wieso), daß Christabel sich manchmal vor Lachen fast in die Hose machte.
Um an die Türklingel zu kommen, mußte sie einen der Farne beiseite schieben, die praktisch die ganze Veranda einnahmen. Dann mußte sie lange warten. Schließlich ertönte Herrn Sellars’ seltsame Stimme hinter der Tür, ganz pfeifend und leise.
»Wer da?«
»Christabel.«
Die Tür ging auf, und feuchte Luft kam heraus und der schwere grüne Geruch der Pflanzen. Sie trat rasch ein, damit Herr Sellars wieder zumachen konnte. Als sie das erste Mal bei ihm gewesen war, hatte er ihr erzählt, es sei schlecht für ihn, wenn er zu viel von der Feuchtigkeit hinausließ.
»So so, die kleine Christabel!« Er wirkte sehr erfreut, sie zu sehen. »Und welchem Umstand verdanke ich diese reizende Überraschung?«
»Ich hab Mami gesagt, daß ich zu Portia gehe, Otterland spielen.«
Er nickte. Er war so lang und gebückt, daß sie manchmal, wenn er wie jetzt beim Nicken den Kopf heftig auf und ab bewegte, Angst hatte, er könne sich seinen dünnen Hals verknacksen. »Aha, dann dürfen wir deinen Besuch nicht allzu sehr in die Länge ziehen, nicht wahr? Aber trotzdem sollten wir alles so machen, daß es seine Ordnung hat. Du weißt, wo du dich umziehen kannst. Ich denke, dort wird etwas hängen, das dir
Weitere Kostenlose Bücher