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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Mutter und ihrem Vater. »War es schlimm, als du Pilot warst? Damals in deiner Jugend?«
    Sein Lächeln erlosch. »Manchmal war es schlimm, ja. Und manchmal war es sehr einsam. Aber es war das, wozu ich erzogen worden war, Christabel. Ich wußte das, seit… seit der Zeit, als ich noch kleiner Junge war. Es war meine Pflicht, und ich war stolz darauf, sie zu erfüllen.« Sein Gesicht nahm einen etwas seltsamen Ausdruck an, und er beugte sich vor, um an seinem Wassergerät zu hantieren. »Nein, es war mehr als bloß das. Es gibt ein Gedicht, in dem heißt es:
     
… Mein Grund zum Kampf war kein Du-mußt,
    Nicht Ruhm, nicht Pflicht, nicht Gier nach Sieg,
    Ein einsamer Impuls der Lust
    Trieb mich in diesen Wolkenkrieg.
    Ich wog es ab, dann war’s geklärt:
    Nichts wert schien, was die Zukunft bot,
    Was hingegangen war, nichts wert
    Gegen dies Leben, diesen Tod.«
     
    Er hustete. »Das ist Yeats. Es ist immer schwer zu sagen, was genau uns zu bestimmten Entscheidungen treibt. Besonders zu solchen, vor denen wir Angst haben.«
    Christabel wußte nicht, was Jäitz war, und verstand nicht, was das Gedicht sagen wollte, aber es gefiel ihr nicht, wenn Herr Sellars so traurig dreinschaute. »Wenn ich mal groß bin, werde ich Ärztin«, sagte sie. Anfang des Jahres hatte sie noch gedacht, sie wollte vielleicht Tänzerin oder Sängerin im Netz werden, aber jetzt wußte sie es besser. »Soll ich dir erzählen, wo ich meine Praxis haben werde?«
    Der alte Mann lächelte wieder. »Das würde ich liebend gern hören – aber wird es nicht langsam ein bißchen spät für dich?«
    Christabel sah nach. Ihr Armband blinkte. Sie sprang auf. »Ich muß mich umziehen. Aber ich wollte eigentlich, daß du mir die Geschichte weitererzählst.«
    »Das nächste Mal, Liebes. Wir wollen doch nicht, daß du Schwierigkeiten mit deiner Mutter bekommst. Es wäre mir sehr unangenehm, in der Zukunft auf deine Gesellschaft verzichten zu müssen.«
    »Ich wollte, daß du mir die Geschichte von Hans fertig erzählst.« Sie eilte ins Umkleidezimmer und zog sich wieder an. In dem Plastikbeutel waren ihre Sachen trocken geblieben, genau wie gedacht.
    »Ah, ja«, sagte Herr Sellars, als sie zurückkam. »Und wobei war Hans gerade, als wir aufgehört hatten?«
    »Er war die Bohnenranke hochgeklettert und war jetzt im Schloß des Riesen.« Christabel war ein wenig beleidigt, daß er das nicht mehr wußte. »Und der Riese sollte bald zurückkommen!«
    »Ah, genau, ganz genau. Der arme Hans. Schön, an der Stelle machen wir weiter, wenn du mich das nächste Mal besuchst. Jetzt aber los!« Er tätschelte ihr sanft den Kopf. So wie sein Gesicht dabei aussah, dachte sie, daß es vielleicht seiner Hand weh tat, sie anzufassen, aber er machte es jedesmal.
    Sie war schon so gut wie zur Tür hinaus, als ihr noch etwas einfiel, was sie ihn über die Pflanzen fragen wollte. Sie drehte sich um und ging zurück, aber Herr Sellars hatte seine Augen wieder geschlossen und sich in seinen Stuhl zurücksinken lassen. Seine langen, spindeligen Finger bewegten sich langsam, als ob er Fingerbilder in die Luft malte. Sie starrte ihn einen Moment lang an – sie hatte das noch nie gesehen und dachte, es sei vielleicht eine besondere Übung, die er machen mußte –, dann merkte sie, daß Dampfwolken an ihr vorbei in die heiße Nachmittagsluft hinauswallten. Sie ging schnell wieder hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Die Übungen, wenn es denn welche gewesen waren, hatten einen privaten und leicht unheimlichen Eindruck gemacht.
    Er hatte seine Hände in der Luft bewegt wie jemand, der im Netz war, fiel ihr plötzlich ein. Aber Herr Sellars hatte gar keinen Helm auf dem Kopf gehabt oder eines dieser Kabel im Hals wie einige der Leute, die für ihren Papi arbeiteten. Er hatte einfach die Augen zugehabt.
    Ihr Armband blinkte noch schneller. Christabel wußte, daß es nur noch wenige Minuten dauern würde, bis ihre Mutter bei Portia zuhause anrief. Sie vertrödelte keine Zeit mehr mit Hüpfen, als sie über die Fußbrücke zurückging.

Kapitel
Graues Leersignal
    NETFEED/NACHRICHTEN:
    Asiens Führer proklamieren »Prosperitätszone«
    (Bild: Empress Palace, Singapur)
    Off-Stimme: Führende asiatische Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, die unter dem Vorsitz des greisen, zurückgezogen lebenden chinesischen Finanziers Jiun Bhao und Singapurs Premierminister Low zusammenkamen -
    (Bild: Low Wee Kuo und Jiun Bhao geben sich die Hand)
    - einigten sich auf ein historisches

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