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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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die Farbschärfe verloren und waren an manchen Stellen sogar schon ganz verblaßt. Über dem breiten Eingangsportal hing eine Markise und bewegte sich nicht, obwohl sie in einer simulierten Brise hätte flattern sollen – wie das ganze Gebäude war sie auf das Minimalniveau heruntergefahren worden.
    Renie begab sich zum Eingang, und nachdem eine kurze Überprüfung ergeben hatte, daß es keinerlei Sicherheitsvorkehrungen mehr gab, trat sie ein. Das Innere war noch verwahrloster als das Äußere, der allmähliche Verfall hatte daraus ein Arsenal von Phantomwürfeln gemacht, aufeinandergestapelt wie ausrangierte Spielzeugbausteine. Ein paar besser gearbeitete Simobjekte hatten sich ihren ursprünglichen Zustand weitgehend bewahrt und bildeten einen unheimlichen Kontrast.
    Die Rezeption war einer davon, ein schimmernder Klotz aus neonblauem Marmor. Dahinter entdeckte sie Stephen und Eddie.
    »Was zum Teufel wird hier gespielt?«
    Beide hatte SchulNetz-Sims, die höchstens so detailliert gestaltet waren wie ihrer, aber trotzdem sah sie an Stephens Gesicht, daß er schreckliche Angst hatte. Er rappelte sich auf und umschlang ihre Taille. Nur die Hände ihres Sims waren an die taktile Rückmeldung angeschlossen, und trotzdem merkte sie, daß er fest drückte. »Sie sind hinter uns her«, sagte Stephen atemlos. »Leute aus dem Club. Eddie hat einen Tarnschild, und hinter dem haben wir uns versteckt, aber es ist ein billiger, und sie werden uns bald gefunden haben.«
    »Du hast mir gesagt, daß ihr hier drin seid, und damit weiß jeder hier, den es interessiert, das auch.« Sie drehte sich zu Eddie um. »Und wo in Gottes Names hast du einen Schild herbekommen? Nein, sag’s mir nicht. Nicht jetzt.« Sie machte sich sacht von Stephen los. Es war merkwürdig, seinen dünnen Arm zwischen den Finger zu fühlen und gleichzeitig zu wissen, daß ihre echten Körper sich in der wirklichen Welt an entgegengesetzten Enden der Stadt befanden, aber genau solche Wunder waren es, die sie ursprünglich auf das VR-Feld gelockt hatten. »Wir reden später drüber – und ich habe reichlich Fragen. Aber erst mal müßt ihr hier verschwinden, bevor wir wegen euch noch alle ein Strafverfahren an den Hals kriegen.«
    Eddie machte schließlich den Mund auf. »Aber… Soki…«
    »Wieso Soki?« fragte Renie unwirsch. »Ist er etwa auch hier?«
    »Er ist immer noch in Mister J’s drin. Quasi.« Eddie schien mit den Nerven am Ende zu sein. Stephen redete für ihn weiter.
    »Soki ist… er ist in ein Loch gefallen. So ’ne Art Loch. Als wir ihn rausholen wollten, sind diese Männer gekommen. Ich glaube, es waren Reps.« Seine Stimme zitterte. »Sie waren echt zum Fürchten.«
    Renie schüttelte den Kopf. »Für Soki kann ich nichts tun. Mir läuft die Zeit weg, und ich werde mich nicht widerrechtlich in einen Privatclub einschleichen. Wenn er erwischt wird, wird er erwischt. Wenn er verrät, wer mit dabei war, müßt ihr die Suppe auslöffeln, die ihr euch eingebrockt habt. Netboy-Lektion Nummer eins: Du kriegst, was du verdienst.«
    »Aber … aber wenn sie ihm was tun?«
    »Ihm was tun? Sie können ihm einen Schreck einjagen – und das habt ihr Rotzlöffel auch verdient. Aber niemand wird ihm was tun.« Sie griff sich Eddie, so daß sie jetzt beide Jungen am Arm hielt; in den Prozessoren der TH zählte ihr Escape-Algorithmus zwei dazu. »Und wir werden jetzt…«
    Ein gewaltiges Krachen erscholl, beinahe so laut wie die Bombe in der TH, so laut, daß Renies Kopfhörer den höchsten Lärmpegel nicht mehr übertragen konnten und einen Augenblick lang gnädig verstummten. Die Hotelfront zerstäubte zu winzigen wirbelnden Netzstaubteilchen. Ein ungeheurer Schatten baute sich zwischen ihnen und der Toytown-Straße auf, viel größer als die meisten normalen Sims. Das war so ziemlich alles, was sie erkennen konnte: Etwas daran, etwas Dunkles und arhythmisch Flackerndes in seinem Darstellungsmodus, machte es beinahe unmöglich, ihn anzuschauen.
    »Mein Gott.« Renie klangen die Ohren. Das sollte ihr eine Lehre sein, nie wieder die Kopfhörer laut gestellt zu lassen. »Mein Gott!« Einen Moment lang erstarrte sie vor Schreck über die Gestalt, die sich vor ihr auftürmte, eine brillante abstrakte Umsetzung der Begriffe »groß« und »gefährlich«. Dann packte sie die Jungen und klinkte sich aus dem System aus.
     
    »Wir … wir sind in Mister J’s rein. Bei uns an der Schule machen das alle.«
    Renie starrte ihren Bruder über den Küchentisch

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