Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
bewegte die Hand. Die vier Bildwände leuchteten auf. »Dies ist ein Labor, Daniel, aber keins von der Frankensteinschen Sorte. Wir arbeiten hier mit Information. Das ›Spielzeug‹, wie du es nennst, ist nicht etwas, was ich einfach auf den Tisch stellen und dir vorführen kann.«
»Dann spar dir die Theatralik.«
Wells schüttelte mit gespieltem Bedauern den Kopf. »Meine Leute haben viel Zeit in eine Sache investiert, die wir niemandem außerhalb des Unternehmens zeigen können. Da darfst du mir getrost ein kleines bißchen Theater gönnen.« Er winkte, und alle vier Bildschirme wurden dunkel. Ein Hologramm kleiner weißer Punkte entstand mitten im Raum. Die Punkte schienen sich völlig willkürlich zu bewegen, wie Bakterien im Zeitraffer oder überhitzte Moleküle. »Mir wäre wohler, wenn ich dich über den Kontext aufklären könnte, Daniel, deshalb werde ich dir erst einmal die Geschichte dieses Projekts ein wenig erläutern. Du kannst mich jederzeit unterbrechen, wenn ich dir zu viele Dinge erzähle, die du schon weißt.«
Yacoubian schnaubte. »Dich unterbrechen? Wie denn? Deine Sicherheitsknaben haben mir die Waffe weggenommen.«
Wells schenkte ihm ein eisiges Lächeln. »Das Problem stellt sich oberflächlich betrachtet ziemlich unkompliziert dar. Das Gralsprojekt ist im Grunde eine Simulation, wenn auch unendlich viel ehrgeiziger als jede andere bis dato. Als Teil des Experiments wurde eine von unserem Vorsitzenden ausgewählte Versuchsperson – nennen wir ihn der Einfachheit halber X, da man uns seinen richtigen Namen noch nicht mitgeteilt hat – in die Simulation eingeschleust.« Wells machte eine Geste. Das Bild eines sargähnlichen und mit Kabeln behängten Metallzylinders trat kurzfristig an die Stelle der Pünktchen. »Es war übrigens nicht leicht, irgendwelche Informationen über die Versuchsperson zu bekommen – der alte Mann läßt sich überhaupt nicht in die Karten gucken –, aber anscheinend wurde X diversen Konditionierungsverfahren unterzogen, mit dem Ziel, sein Gedächtnis zu verändern oder auszuschalten, bevor er uns übergeben wurde.«
»Konditionierungsverfahren!« Yacoubian lachte kurz und hart auf. »Und ihr Zivilisten macht Witze über militärische Euphemismen! Was haben sie mit ihm gemacht, ihm einen schlechten Haarschnitt und zu viel Shampoo verpaßt? Sie haben ihn innerlich gelöscht, Wells. Er hat eine komplette Gehirnwäsche bekommen.«
»Sei’s drum. Jedenfalls kam es vor ungefähr einem Monat zu einer Störung der Überwachungsanlage und zur Auslösung der Abkoppelungssequenz – wir können immer noch nicht mit Sicherheit sagen, ob es Zufall oder Sabotage war –, und der Kontakt mit X ging verloren. Der Kontakt mit seinem Gehirn, heißt das. Sein Körper befindet sich selbstverständlich immer noch hier auf dem Gelände. Ungefähr fünfzehn Meter unter der Stelle, wo du gerade stehst, um genau zu sein. Aber das bedeutet, daß seine Submersion im Simulationsnetzwerk anhält, und wir haben keine Ahnung, wo in der Matrix er sich befindet.«
»Okay, damit wärst du endlich bei etwas angelangt, was ich noch nicht weiß«, sagte Yacoubian. »Warum können wir ihn nicht finden? Wie schwer kann das sein?«
»Ich möchte dir etwas zeigen.« Wells bewegte abermals die Hand. Die leuchtenden weißen Punkte tauchten wieder auf und blieben dann stehen, so daß sie aussahen wie eine dreidimensionale Sternenkarte. Wells deutete auf einen Punkt, und der wurde rot und fing an zu blinken. »Die alten Simulationen waren sehr simpel – alles war reaktiv. Wenn die Versuchsperson etwas anschaute oder anfaßte oder sich in eine Richtung bewegte, verhielt sich die Simulation dementsprechend.«
Der rote Punkt fing langsam an sich zu bewegen. Die weißen Punkte, die sich am nächsten um ihn herum scharten, nahmen ihre vorherige Bewegung wieder auf, aber alle anderen Punkte blieben starr.
»Alles geschah in Beziehung auf die Versuchsperson. Gab es keine Versuchsperson, dann geschah auch nichts. Selbst wenn es eine gab, geschah nichts, was über den Wahrnehmungshorizont dieser Versuchsperson hinausging. Aber genau wie die ganz ähnlichen frühen Experimente mit künstlicher Intelligenz erzeugten derartige Simulationen sehr dürftige Versionen dessen, was sie zu simulieren versuchten – reale Menschen denken nicht in linearen Wenn-dann-Ketten, und reale Verhältnisse hören nicht auf sich zu verändern, wenn es keinen menschlichen Beobachter gibt. Daher ging man gegen Ende des vorigen
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