Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
heraus und steckte es in ein Implantat hinter seinem linken Ohr. Wells tat das gleiche.
»Ich sehe nichts. Bloß einen Haufen Bäume und einen See.«
»Der Baum da? Das ist unser Agent.«
»Was soll denn das jetzt schon wieder? Ein Agent, der ein Baum ist? Hast du völlig den Verstand verloren?«
»Jetzt guck dir diese Szene an. Siehst du die Frau dort am vorderen Tisch? Das ist unser Agent. Die nächste – das da ist unser Agent, der Soldat mit dem Flammenwerfer.«
Yacoubian faßte etwas scharf ins Auge, was von außen nicht zu sehen war. »Also das Ding verändert sich?«
»Fügt sich in jede Umgebung ein. Ein Modell oder eine Zeichnung oder sonstwas habe ich dir deswegen nicht gezeigt, weil es nichts zu zeigen gibt. Es ist der perfekte Verstellungskünstler und damit die perfekte Suchvorrichtung – es paßt sich allem an.«
»Na schön, es fügt sich ein und paßt sich an – und wozu soll das gut sein?«
Wells seufzte. »Selbst wenn X ihm ein- oder zweimal entkommt, wird er es trotzdem nicht wiedererkennen, weil es niemals dieselbe Form oder Erscheinung hat. Und es lernt unentwegt, findet immer raffiniertere Formen, sich anzupassen und Informationen zu sammeln. Noch wichtiger aber ist, daß es die Daten auf einer höheren Ebene durchkämmt als die Agenten der alten Art, weil es nicht nach Übereinstimmungen mit einem einzigen Profil sucht. Eigentlich tut es das Gegenteil – es sucht nach Anomalien.«
»Und wenn es eine Anomalie findet – bumm! Dann haben wir ihn.«
»Ich sollte dich digitalisieren und in meinen Lehrplan für neue Angestellte einbauen – ›Erklärungen für Laien‹. Nein, Daniel, so einfach ist es nicht. Denk dran, wir haben dieses Netzwerk mit weniger als hundert verschiedenen Simulationen angefangen, aber inzwischen muß es wenigstens ein paar Tausende geben – ich habe allein schon um die vierzig. Hinzu kommt, daß es zu jedem beliebigen Zeitpunkt über zehntausend reale Personen geben muß, die die Simulationen benutzen – viele unserer einfachen Mitglieder finanzieren ihren Platz auf der Warteliste des Gralsprojekts, indem sie Zeit im Netzwerk an Freunde und Geschäftspartner vermieten. Alles zusammengenommen – die ständige Veränderung der Simulationen, lebende Benutzer, die von Artefakten kaum zu unterscheiden sind, und … na ja, noch ein paar hin und wieder auftretende Merkwürdigkeiten, die wir noch untersuchen –, dies alles hat zur Folge, daß ›Anomalien‹, wie ich es genannt habe, millionen- und abermillionenfach vorkommen. Und trotzdem prüft und sucht unser neuer Agent schneller als irgend etwas anderes, und auf Schnelligkeit kommt es an. Ob es dir paßt oder nicht, wir veranstalten gewissermaßen einen Wettlauf mit unserem Vorsitzenden. Aber es wird unser Schnuckelchen sein, das X findet, und jeden anderen auch, den wir je aufspüren wollen, das kann ich dir versprechen.« Er lachte still vor sich hin. »Weißt du, auf welchen Codenamen wir den Agenten getauft haben? Nemesis.«
Der General zog sich das Kabel aus dem Hals. »Von diesen ausländischen Autos hab ich noch nie viel gehalten.« Er beobachtete Wells, der sich ebenfalls ausstöpselte. »Meine Fresse, das war ein Witz, du Gipskopf. Ich hab schon mal was von griechischer Mythologie gehört. Und wann willst du dein kleines Monster vom Stapel lassen? Zertepperst du dazu ’ne Flasche Champagner an der Bildwand?«
Wells wirkte ein wenig verärgert. »Ist schon geschehen. Während wir hier reden, arbeitet es sich durchs System, lernt, verändert sich, erfüllt seinen Auftrag. Braucht niemals was zu essen, niemals Urlaub. Der perfekte Angestellte.«
Yacoubian nickte und stand auf. »Ganz nach meinem Geschmack. Apropos perfekter Angestellter, wenn du diesen Tanabe entläßt, sag mir Bescheid. Ich werde ihn entweder anstellen oder umbringen.«
»Ich bezweifle, daß du je Gelegenheit zum einen oder andern erhältst, Daniel. Bei TMX ist die Fluktuation noch geringer als beim Militär. Unsere Bezahlung ist sehr gut.«
»Kann ich mir vorstellen. Wo geht’s hier raus?«
»Ich begleite dich.«
Auf dem Weg durch den dick mit Teppich ausgelegten Flur faßte der General den Gründer von Telemorphix sacht am Arm. »Bob, wir waren in Wirklichkeit gar nicht im Labor, stimmt’s? Nicht in dem hypersauberen Teil, wo Sicherheitsmaßnahmen unerläßlich sind. Das heißt, ich mußte nicht durchsucht werden, bloß um in diesen Konferenzraum zu dürfen, stimmt’s?«
Wells ließ sich mit der Antwort einen Moment
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