Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Zeit, ihr zu helfen oder sie auch nur aufzumuntern. »Kannst du schießen? Hast du noch Ladung in deinem Handschuh?«
»Sie haben ihn geschnappt!« kreischt sie voll Wut über deine scheinbare Gleichgültigkeit. Ihre Stimme klingt, als wäre etwas in ihr unwiderruflich zerbrochen. »Sie haben ihn gefangen, ihn in ihren Bau gebracht! Sie haben … sie haben ihm etwas durch… durch die Augen gestochen … beim Wegschleppen …«
Du schauderst. Am Schluß wirst du die letzte Ladung für dich selbst aufheben. Du hast Gerüchte darüber gehört, was diese Biester mit ihrer Beute machen. Das soll dir nicht passieren.
Olechow ist auf dem Boden zusammengesackt, und aus ihrem Zittern werden rasch Krämpfe. Blut läuft von ihrem Armstumpf nach hinten in ihren Helm – die Dichtungen funktionieren nicht richtig. Unsicher, was zu tun ist, zögerst du, da schrillen deine Anzugsensoren wieder los. Du blickst auf und siehst ein Dutzend vielgliedriger Gestalten, jede so groß wie ein kleines Pferd, über die rauchende, von Trümmern übersäte Oberfläche des Planeten auf dich zueilen. Olechows Schluchzen ist das Zucken und Keuchen einer Sterbenden geworden …
»Boß! He, Boß! Laß diese billigen Imitate sein. Ich muß dir was sagen.«
»Verdammt nochmal, Beezle, ich kann es nicht leiden, wenn du das machst. Es fing gerade an, gut zu werden.« Und etwas Ablenkung hatte ihm in der letzten Woche weiß Gott gefehlt. Er schaute sich mißmutig in seinem ElCot um. Selbst ohne die Trophäen sah es immer noch ziemlich gräßlich aus. Der ganze Stil mußte unbedingt geändert werden.
»’tschuldigung, aber du hast gesagt, du wolltest sofort Bescheid wissen, wenn sich die Böse Bande melden würde.«
»Sind sie am Apparat?«
»Nein. Aber sie haben dir grade eine Nachricht geschickt. Willst du sie sehen?«
Orlando schluckte seinen Ärger hinunter. »Ja, verdammt. Spiel sie ab.«
Ein Haufen gelber Würmchen erschien in der Mitte des Zimmers. Orlando runzelte die Stirn und vergrößerte das Bild. Als er die Figuren endlich deutlich erkennen konnte, war die Auflösung sehr schlecht; so oder so taten ihm beim angestrengten Starren auf die verwaschenen Formen die Augen weh.
Die Äffchen kreisten in einer kleinen ringförmigen Wolke. Auch als eines von ihnen das Wort ergriff, fuhren die anderen fort, sich Klapse zu geben und enge Kreise zu fliegen. »Die Böse Bande … wird sich mit dir treffen«, sagte der vorderste Affe mit melodramatischer Gebärde, die zum Schubsen und Stoßen im Hintergrund nicht recht passen wollte. Der Affensprecher hatte das gleiche karikatureske Grinsen aufgesetzt wie alle anderen, und Orlando konnte nicht sagen, ob er die Stimme schon einmal gehört hatte oder nicht. »Die Böse Bande wird sich mit dir im BandenSonderGeheimClubBunker in TreeHouse treffen.« Eine Zeitangabe und eine Knotenadresse voll kindlicher Rechtschreibfehler leuchteten auf. Die Nachricht war zu Ende.
Orlando verdrehte die Augen. »Schick ihnen eine Antwort, Beezle. Sag ihnen, ich komme nicht in TreeHouse rein. Entweder sie holen mich rein, oder wir müssen uns hier im Inneren Distrikt treffen.«
»Alles klar, Boß.«
Orlando setzte sich in die leere Luft und schaute das MBC-Fenster an. Die kleinen Wühlautomaten waren immer noch emsig dabei, mit hirnloser Hingabe ihren Auftrag auszuführen. Orlando fühlte sich seltsam. Er hätte aufgeregt oder wenigstens zufrieden sein sollen: Er hatte wieder einen Kontakt zu TreeHouse hergestellt. Statt dessen war er deprimiert.
Es sind kleine Kinder, dachte er. Bloß Mikros. Und ich will sie dazu kriegen … was zu tun? Das Gesetz zu brechen? Mir häcken zu helfen? Und wenn ich recht habe und mächtige Gangster dabei die Hand im Spiel haben? In was ziehe ich sie dann rein? Und weswegen?
Wegen eines Bildes. Wegen etwas, das er nur wenige Augenblicke lang gesehen hatte und das alles bedeuten konnte … oder absolut nichts.
Aber es ist alles, was mir noch bleibt.
> Es war ein Schrank. Er erkannte das an dem leicht muffigen Kleidergeruch, und außerdem zeichneten sich in dem Licht, das durch den Spalt unter der Tür einsickerte, vage die rippenartigen Umrisse von Kleiderbügeln ab. Er war in einem Schrank, und draußen suchte jemand nach ihm.
Vor langer Zeit, als seine Eltern noch manchmal Besuch bekamen, waren einmal seine Cousins und Cousinen zu Weihnachten da gewesen. Sein Problem war damals noch nicht so offensichtlich gewesen, und obwohl sie ihm mehr Fragen über seine Krankheit
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