Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
gestellt hatten, als ihm lieb gewesen war, hatte er sich auf seltsame Weise geschmeichelt gefühlt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, und ihren Besuch genossen. Sie hatten ihm viele Spiele beigebracht, wie sie Einzelkinder wie er sonst nur in der VR spielten. Eines davon war Verstecken.
Das Spiel hatte einen unvorhersehbaren Eindruck auf ihn gemacht, die fieberhafte Erregung des Versteckens, das atemlose Warten im Dunkeln, während »es« nach ihm suchte. Beim dritten oder vierten Spiel hatte er einen Platz im Wandschrank im Badezimmer seiner Eltern gefunden – sehr trickreich, weil er eines der Borde abnehmen und verbergen mußte, um hineinzupassen – und hatte dort unentdeckt ausgeharrt, bis der Sucher seine Kapitulation durchs Haus trompetet hatte. Dieser triumphale Moment, als er die Aufgabe seines fernen Gegenspielers hörte, war eine der wenigen durch und durch glücklichen Erinnerungen seines Lebens.
Warum hatte er dann jetzt, wo er hier in der Dunkelheit kauerte, während draußen etwas das Zimmer in Augenschein nahm, so panische Angst? Warum hetzte sein Herz wie das eines angestrahlten Hirsches? Warum fühlte sich seine Haut an, als wollte sie sich ganz auf seinen Rücken zurückziehen? Das Ding da draußen, was es auch war – aus irgendeinem Grund konnte er es sich nicht als Mensch vorstellen, sondern nur als ein gesichtsloses, formloses Etwas –, wußte bestimmt nicht, wo er war. Was könnte es sonst für einen Grund haben, nicht einfach die Schranktür aufzuziehen? Es sei denn, es wußte, wo er war, und genoß das Spiel, kostete seine eigene Macht und die Hilflosigkeit seines Opfers aus.
Es war wirklich ein Ding, begriff er. Das war es, was ihn so entsetzte. Es war nicht einer seiner Cousins, auch nicht sein Vater, nicht einmal irgendein bizarres Monster aus Mittland. Es war ein Ding. Ein Es.
Seine Lungen taten ihm weh. Er hatte den Atem angehalten, ohne es zu merken. Jetzt wollte er nichts so sehr, wie den Mund aufreißen und einen großen Zug frischer Luft einsaugen, aber er wagte nicht, ein Geräusch zu machen. Draußen war ein Kratzen zu hören, dann Stille. Wo war es jetzt? Was machte es? Direkt vor der Schranktür stehen und lauschen? Auf ein verräterisches Geräusch warten?
Und am allerfurchtbarsten war, erkannte er, daß außer dem Ding da draußen niemand im Haus war. Er war allein mit dem Ding, das jetzt in diesem Moment die Schranktür aufzog. Allein.
In der Dunkelheit, an einem erstickten Schrei in der Kehle würgend, schloß er die Augen und betete, daß Spiel möge zu Ende sein …
»Ich hab dir Schmerzmittel gebracht, Boß. Du hast dich im Schlaf mächtig rumgewälzt.«
Orlando hatte Schwierigkeiten, Luft zu bekommen. Seine Lungen wollten sich einfach nicht füllen, und als er endlich einen tiefen Atemzug zustande brachte, schüttelte ihm ein feuchter Husten die Knochen durch. Er setzte sich auf und stieß dabei unabsichtlich Beezles Roboterkörper um, so daß dieser hilflos auf die Bettdecken hinunterrollte und sich dort mühsam wieder aufrappelte.
»Es war … ich hab bloß schlecht geträumt.« Er schaute sich um, aber in seinem Zimmer gab es gar keinen Schrank, wenigstens keinen von der altmodischen Sorte. Es war ein Traum gewesen, bloß einer der dummen Albträume, die er in schlechten Nächten hatte. Aber etwas daran war wichtig gewesen, wichtiger noch als die Furcht.
Beezle stand inzwischen wieder auf seinen Haftbeinchen und machte Anstalten, die Decke hinunterzukrabbeln, zurück in seine nährende Wandsteckdose.
»Wart mal.« Orlando dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern. »Ich … ich denke, ich muß einen Anruf machen.«
»Laß mich erst die Beine loswerden, Boß.« Beezle kraxelte unbeholfen am Bettgestell zu Boden. »Wir sehen uns online.«
> Die Türen des Last Chance Saloon schwangen auf. Ein Axtmörder schleifte höflich sein Opfer zur Seite, bevor er sich wieder eifrig an die Zerstückelung machte. Die Figur, die über die sich ausbreitende Blutlache trat, hatte die vertrauten breiten Schultern und den dicken Gewichtheberhals. Außerdem hatte Fredericks, als er sich hinsetzte, einen Ausdruck auf seinem Simgesicht, der ein gewisses Mißtrauen verriet.
Er? Eine Art Verzweiflung überkam Orlando. Sie?
»Ich hab deine Nachricht bekommen.«
Orlando schüttelte den Kopf. »Ich … ich wollte einfach nicht…« Er holte tief Luft und fing noch einmal an. »Ich weiß nicht. Ich bin einigermaßen angeätzt, aber auf ’ne ziemlich
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