Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
und raste auf die Zelte zu. Paul, Bagwalter und Gally kletterten etwas langsamer hinunter.
Die Nimboren hatten zu graben aufgehört und drängten sich jetzt um die Neuankömmlinge, die Werkzeuge noch in den Händen. Ihre Blicke waren scheu und verstohlen; ihre Kinnladen hingen herunter, als ob sie nicht genug Luft zu atmen bekämen. Sie waren offensichtlich neugierig, aber es schien eine Neugier zu sein, die eher der Langeweile entsprang als echtem Interesse. Paul fand, daß sie viel tierischer aussahen als Kluru und seine Fischernachbarn.
»Und hier sind sie!« Brummonds Stimme hallte von den roten Steinen wider. Er war aus einem der größeren Zelte getreten, den Arm um eine hochgewachsene, gutaussehende Frau in einer steifen weißen Bluse und einem langen Rock gelegt. Sogar der Tropenhelm auf ihrem Kopf wirkte stilvoll und elegant. »Das ist Joanna, meine Verlobte – und Bags’ Tochter natürlich. Das einzig wirklich Gescheite, was er je zustande gebracht hat.«
»Herzlich willkommen in unserem Lager.« Joanna lächelte Paul an und reichte ihm die Hand. Ihr Blick fiel auf Gally. »Oh! Und das muß der Junior sein. Aber du bist ja gar kein Kind mehr – du bist doch fast schon erwachsen! Was für ein Vergnügen, dich kennenzulernen, junger Mann. Ich glaube, ich habe noch ein paar Ingwerkekse in meinem Brotkasten, aber wir sollten uns vergewissern.« Gally leuchtete förmlich, als sie sich wieder Paul zuwandte. »Aber zuerst müssen wir uns um Ihre Verlobte kümmern, denn wie ich höre, ist sie von den Priestern des Sumbars schrecklich behandelt worden.«
Paul sah sich nicht bemüßigt, das mit der »Verlobten« richtigzustellen: Wenn Joanna irgendeine Ähnlichkeit mit ihrem Zukünftigen hatte, war sowieso jedes Wort sinnlos. »Ja. Es wäre nett, wenn Hurley mir helfen würde, sie vom Schiff zu tragen.«
»Aber natürlich wird er das. In der Zwischenzeit werde ich auf der Veranda einen Morgentee servieren – wir sagen Veranda dazu, aber eigentlich ist es bloß ein Stoffsegel neben dem Zelt zum Schutz vor dieser sengenden Marssonne.« Sie lächelte ihn abermals an, dann trat sie einen Schritt vor und küßte Professor Bagwalter auf die Backe. »Und zu dir habe ich noch gar nichts gesagt, liebster Vater! Wie gräßlich von mir! Ich hoffe sehr, du hast dir nichts getan, während du mit Hurley herumzigeunert bist.«
Joanna leitete das Lager mit geradezu beängstigender Effizienz. Wenige Minuten nach ihrer Ankunft hatte sie die Vonarierin bereits in einem der Zelte ins Bett gesteckt und dafür gesorgt, daß jeder Wasser und einen Platz zum Waschen hatte. Daraufhin stellte sie Paul und Gally zwei anderen Mitgliedern der Expedition vor, einem Taltor namens Xaaro, der Kartograph zu sein schien, und einem dicken kleinen Menschen namens Crumley, der der Vorarbeiter des Nimbortrupps war. Schließlich entführte sie Gally in die Küche, damit er ihr bei den Frühstücksvorbereitungen half.
Seiner anderen Verpflichtung ledig kehrte Paul an die Seite der geflügelten Frau zurück. Er setzte sich neben ihre Matratze auf den Zeltboden und wunderte sich erneut über die starke Wirkung, die ihre Gegenwart auf ihn ausübte.
Ihre Augen flatterten. Er fühlte ein erwiderndes Flattern in seiner Brust. Gleich darauf gingen langsam ihre Lider auf. Sie starrte lange ausdruckslos an die Decke, dann trat Angst in ihr Gesicht, und sie versuchte, sich aufzusetzen.
»Du bist in Sicherheit.« Paul rutschte näher und legte seine Hand auf ihren Unterarm. Er staunte über die kühle Seidigkeit ihres azurblauen Fleisches. »Du bist vor den Priestern gerettet worden.«
Mißtrauisch wie ein eingesperrtes Tier richtete sie ihre großen Augen auf ihn. »Du. Ich habe dich auf der Insel gesehen.«
Ihre Stimme brachte in ihm dieselbe Saite zum Schwingen wie alles andere an ihr. Einen Augenblick lang schwindelte es Paul. Er kannte sie – kein Zweifel! Es konnte keine andere Erklärung geben. »Ja«, sagte er, als er wieder atmen konnte. Es fiel ihm schwer zu sprechen. »Ja, ich habe dich dort gesehen. Ich kenne dich, aber irgend etwas ist mit meinem Gedächtnis. Wer bist du? Kennst du mich?«
Sie blickte ihn lange an, ohne etwas zu sagen. »Ich weiß es nicht. Irgend etwas an dir …« Sie schüttelte den Kopf, und zum erstenmal schwand das Mißtrauen, und eine Unsicherheit trat an seine Stelle. »Ich bin Vaala vom Haus der zwölf Flüsse. Aber wie hätte ich dich vor diesem kurzen Blick auf der Insel schon einmal sehen können? Bist du
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