Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
gehabt hatte.
Paul schloß die Augen. Ihm war, als ob das Gewimmel der zahllosen Sterne am schwarzen Himmel ihn in seiner hoffnungslosen Einsamkeit verspottete. In seinem Schmerz umklammerte er die Reling, und einen Moment lang verspürte er die Versuchung, sich einfach über die Seite zu stürzen, all seinen Wirrnissen mit einem einzigen Sturz ins Dunkle ein Ende zu bereiten.
Aber die Frau – sie wird mir etwas sagen. Ihr Blick, ihr dunkler, ernster Blick war wie ein Asyl gewesen …
»Sie machen einen bekümmerten Eindruck, mein Freund«, sagte Bagwalter.
Erschrocken schlug Paul die Augen auf und sah den anderen Mann neben sich stehen. »Ich … ich wünschte bloß, ich könnte mich erinnern.«
»Aha.« Der Professor musterte ihn abermals in seiner beunruhigend durchdringenden Art. »Ihre Kopfverletzung. Vielleicht erlauben Sie mir, Sie einmal zu untersuchen, wenn wir im Lager angekommen sind. Ich habe eine medizinische Grundausbildung genossen und sogar eine gewisse Erfahrung als Nervenarzt.«
»Wenn Sie meinen, das könnte etwas nützen.« Paul war bei dem Gedanken nicht ganz wohl, aber er wollte nicht unfreundlich zu einem Menschen sein, der ihm so viel geholfen hatte.
»Überhaupt gibt es da ein paar Fragen, die ich Ihnen gern gestellt hätte. Wenn Sie nichts dagegen haben, heißt das. Sehen Sie, ich bin, muß ich gestehen, äh … ziemlich erstaunt über Ihre Situation. Ich hoffe, das hört sich nicht unhöflich an, aber Sie scheinen hier nicht hinzugehören.«
Von einem unbestimmten, aber akuten Gefühl der Bedrohung beschlichen, blickte Paul auf. Der Professor wirkte sehr gespannt. »Hier hingehören? Ich wüßte nicht, daß ich irgendwo hingehöre.«
»Das meine ich nicht. Ich drücke mich wohl nicht richtig aus.«
Bevor Bagwalter es noch einmal versuchen konnte, strich ein leuchtendes Etwas über ihre Köpfe, dem gleich darauf drei weitere folgten. Die Erscheinungen, die Licht abstrahlten und nahezu formlos wirkten, drehten sich in der Luft und flogen mit hoher Geschwindigkeit neben dem Luftschiff her.
»Was ist das?«
»Keine Ahnung.« Bagwalter putzte sich erst die Brille und spähte dann nach den pfeilschnellen Lichtwischern, die durch die Luft purzelten und sprangen wie Delphine im Kielwasser eines Seeschiffes.
»Jedenfalls kein Wesen oder Phänomen, das ich auf dem Mars schon einmal gesehen hätte.«
»Ho!« schrie Brummond vom Steuer, »wir werden von irgendwelchen abartigen Glühwürmchen gepiesackt. Hol mir mal jemand mein Gewehr!«
»O Herr«, seufzte Professor Bagwalter. »Wie Sie sehen, hat es die Wissenschaft schwer, wenn Hurley in der Nähe ist.«
Die merkwürdigen Leuchtwesen folgten dem Luftschiff fast eine Stunde, bevor sie genauso abrupt und unerklärlich, wie sie aufgetaucht waren, wieder verschwanden. Als sie schließlich weg waren, hatte Bagwalter anscheinend die Fragen vergessen, die er hatte stellen wollen. Paul hatte nichts dagegen.
Das Morgenrot glühte am Horizont, als das Schiff endlich zu sinken begann. Es war lange her, seit sie die letzte große Ansiedlung überflogen hatten, und Paul konnte in diesem kargen Abschnitt der roten Wüste keinerlei Zeichen humanoiden Lebens erblicken. Gally, der auf Pauls Schoß geschlafen hatte, wachte auf und krabbelte ans Geländer.
Das Luftschiff beschrieb eine Kurve und flog parallel zu einer langen Wand vom Wind geformter Berge. Mit verlangsamter Fahrt glitt es durch einen Paß und verlor dann noch gemächlicher an Höhe. Zum erstenmal konnte Paul Einzelheiten der Landschaft ausmachen, merkwürdige gelbe Bäume mit stacheligen Zweigen und flauschige lila Pflanzen, die wie hohe Rauchwolken aussahen.
»Schau!« Gally deutete nach unten. »Das muß das Lager sein!«
Ein kleiner Kreis von Zelten, vielleicht ein halbes Dutzend insgesamt, stand dicht gedrängt auf dem Grund des Tals neben einem trockenen Wasserlauf. Daneben war ein weiteres Luftschiff vertäut, das noch größer war als das, mit dem sie flogen.
»Das ist meine Temperance!« schrie Brummond vom Steuer. »Das beste Schiff auf Ullamar.«
Eine Schar Nimboren, die in der Mitte des Wasserlaufs gruben, blickte beim Kommen des Luftschiffes auf. Einer von ihnen lief zu den Zelten.
Brummond landete das Luftschiff sanft und gekonnt neben der Temperance, indem er es etwas mehr als mannshoch über dem Boden zum Stillstand brachte und dann weich wie eine Feder absinken ließ. Er flankte von der Brücke und über die Reling, so daß eine rote Staubwolke aufwirbelte,
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