Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
hatte, unter der schwankenden Last nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Ich kann sie nicht mehr viel länger aufhalten«, rief Brummond. »Bags – flieg los!«
»Nicht ohne dich, Hurley!«
»Ich komm schon, verdammt! Flieg einfach los!«
Noch keine zehn Meter über dem Dach an der Leiter hängend, spürte Paul, wie das Luftschiff zu steigen begann. Das untere Ende der Leiter hob vom Boden ab. Brummond versetzte der Tür einen letzten Tritt und lief auf die rasch entschwindende Leiter zu, während hinter ihm die Tür aufknallte und mehrere wütende Onyxgardisten hervorstürmten. Das Luftschiff hatte die Leiter schon so hoch gezogen, daß Paul das Herz in die Hosen rutschte – sie hatten Brummond im Stich gelassen, der zwar ein Wahnsinniger sein mochte, aber doch für Paul sein Leben riskiert hatte. Aber Hurley Brummond machte zwei große federnde Sätze und sprang, sprang höher, als Paul es für möglich gehalten hätte, und erwischte die unterste Sprosse der Leiter. Grinsend baumelte er an einem Arm, während das Luftschiff sich emporschwang und die aufgebrachten Leibgardisten des Sumbars unten immer kleiner wurden.
»Na, Kamerad«, rief er zu Paul hoch, »das war ein ereignisreicher Abend, was?«
Die geheimnisvolle Frau lag schlafend auf dem Bett in der Kapitänskajüte; selbst zusammengefaltet stießen ihre durchscheinenden Flügel fast an die Wände.
»Kommen Sie, Herr Jonas.« Professor Bagwalter klopfte ihm auf die Schulter. »Sie können selber ein wenig Pflege vertragen – Sie haben noch nichts gegessen, seit Sie bei uns sind.«
Paul war fast die ganze Nacht nicht von ihrer Seite gewichen, weil er Angst hatte, sie könnte aufwachen und über die fremde Umgebung erschrecken, aber die Droge, die ihr die Priester verabreicht hatten, war stark, und mittlerweile machte es sehr den Eindruck, als würde sie durchschlafen, bis sie das Expeditionslager erreicht hatten. Er folgte Bagwalter in die kleine Küche des Luftschiffes, wo der Professor ihm eine Mahlzeit aus kaltem Fleisch, Käse und Brot vorsetzte. Er nahm es als freundliche Geste auf, obwohl er gar keinen Hunger verspürte, und begab sich dann ans Steuer, wo Brummond bestimmt zum dritten oder vierten Mal Gally ihre Abenteuer schilderte. Aber die Geschichte war es wirklich wert, mehr als einmal erzählt zu werden, und Paul mußte im stillen zugeben, daß Brummond seine Taten nicht übertrieb.
»Und wie geht’s Ihrer Herzensdame?« erkundigte sich Brummond, der gerade mitten im Kampf gegen die Vormargs war. Auf die Versicherung hin, sie schlafe noch, kehrte er umgehend zu den Säbelhieben zurück. Paul schlenderte weiter übers Deck, denn ihm war nach Ruhe zumute. Er stellte sich an die Reling und schob unlustig das Essen auf seinem Teller herum, während er zusah, wie die beiden Monde, die beide nicht ganz symmetrisch waren, über dem sausenden Schiff unendlich langsam am Himmel dahinzogen.
»Ein richtiges Goldstück, nicht wahr?« fragte der Professor und stellte sich zu ihm ans Geländer. »Ich bin froh, daß es bei der Sache keinen Schaden genommen hat. Ausgeliehen hat es zwar Brummond, aber mir wäre die Aufgabe zugefallen, das Ganze dem Besitzer zu erklären. So läuft das immer.« Er lächelte.
»Gehen Sie schon lange mit ihm auf Fahrt?«
»Immer wieder mal, seit vielen Jahren. Er ist ein guter Kerl, und wenn man Abenteuer sucht – tja, da gibt’s keinen Besseren als Hurley Brummond.«
»Da bin ich sicher.« Paul blickte über die Reling. Die dunkle Linie des Großen Kanals wand sich unter ihnen hin und her, hier und da angeschimmert von den verstreuten Lampen einer Siedlung und manchmal, wenn sie über eine der größeren Städte kamen, von einer ganzen Schatzkiste voll funkelnder Lichter zum Gleißen gebracht.
»Das ist Al-Graschin da unten«, sagte Bagwalter, als sie über ein weites Häusermeer flogen. Sogar bei ihrer großen Höhe dauerte es lange, es zu überqueren. »Das Zentrum des Turtukelfenbeinhandels. Brummond und ich wurden dort mal von Banditen gekidnappt. Prachtvolle Stadt, nur Tuktubim ist schöner. Na ja, Noalva gibt’s auch noch. Es hat vielleicht mehr Einwohner, aber ich habe Noalva immer ein bißchen trist gefunden.«
Paul schüttelte verwundert den Kopf. Die Leute kannten so viele Sachen – es gab so viele Sachen zu kennen! –, doch trotz der kurzen Erinnerungsregung im Palast des Sumbars kannte er fast gar nichts. Er war allein. Er hatte keine Heimat – er konnte sich nicht erinnern, ob er je eine
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