Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
außer Reichweite. Er warf rasch einen Blick auf die Neuankömmlinge, die gerade unten an der Treppe ankamen. Hurley Brummond und Joanna traten vor, um sie zu begrüßen, und der Professor war nur wenige Meter dahinter.
»Komm zurück!« rief er Vaala hinterher. »Ich werde dir helfen -«
Sie breitete die Flügel aus, machte ein paar Schritte von den Zelten weg und schlug mit hörbarem Knallen die Luft. Wieder und wieder gingen die großen Schwingen auf und nieder, bis ihre Füße sich vom roten Sand abzuheben begannen.
»Vaala!« Er spurtete hinter ihr her, aber sie war bereits zwei Meter über dem Boden und stieg stetig weiter. Sie breitete ihre Flügel noch mehr aus, so daß sie die leichte Wüstenbrise einfingen, und schwang sich immer höher. »Vaala!« Er sprang und haschte verzweifelt nach ihr, aber sie war schon so klein und weit weg wie – die Vorstellung kam ihm, ohne daß er gewußt hätte, woher oder warum – ein Engel auf einem Weihnachtsbaum.
»Paul? Wo will sie hin?« Gally schien das Ganze für ein Spiel zu halten.
Vaala flog jetzt mit kräftigen Schlägen rasch auf die Berge zu. Je weiter er sie entschwinden sah, um so mehr fühlte Paul, wie das Herz in ihm zu Stein wurde. Weiter unten führten die dicke Gestalt und die dünne Gestalt einen erregten Wortwechsel mit dem Professor. Sie strahlten eine schreckliche Verkehrtheit aus – schon ein kurzer Blick auf sie erfüllte ihn jetzt mit dem gleichen Grauen, das Vaala zur Flucht gedrängt haben mußte. Er machte kehrt und stürzte den Hang hinunter zur anderen Seite des Lagers.
»Paul?« Gallys Stimme hinter ihm wurde schon leiser. Er zögerte, dann drehte er sich um und lief zu dem Jungen zurück.
»Komm mit!« schrie er. Jeder vergeudete Augenblick schien eine Ewigkeit zu sein. Seine Vergangenheit, seine ganze Lebensgeschichte entfernte sich rasch auf die Berge zu, und auf dem Grund des Tales erwartete ihn irgend etwas Grausiges. Gally war durcheinander. Paul fuchtelte wie wild mit den Armen. Als der Junge endlich auf ihn zugetrabt kam, machte Paul abermals kehrt und eilte auf die vor Anker liegenden Luftschiffe zu.
Er hatte bereits das nächste Schiff erklommen, dasselbe, in dem sie gekommen waren, als Gally eintraf. Er beugte sich hinunter, zog den Jungen an Bord und flitzte ans Steuer.
»Was machst du? Wo ist die Frau hin?«
Bagwalter und die anderen hatten endlich bemerkt, daß etwas nicht in Ordnung war. Mit einer Hand die Augen abschirmend deutete Joanna mit der anderen auf Vaala, die inzwischen kaum mehr als ein blasser Fleck am blauen Himmel war, aber Hurley Brummond stürmte mit Riesensätzen auf das Luftschiff zu. Paul zwang sich, das Mahagoni-Armaturenbrett genau zu betrachten. Es gab mehrere kleine Messinghebel. Paul legte einen um. Tief im Innern des Rumpfes läutete eine Glocke. Paul fluchte und legte die übrigen um. Unter seinen Füßen begann es zu tuckern.
»Verdammt, Mann, was haben Sie vor?« schrie Brummond. Er war jetzt nur noch ein paar Dutzend Meter entfernt und kam mit seinen großen tigerartigen Sprüngen rasch näher. Seine verdutzt-ungläubige Miene verwandelte sich in Wut, und er faßte bereits nach dem Säbel an seinem Gürtel.
Paul zog am Steuer. Ein Schauder lief durch das Luftschiff, und es stieg in die Luft. Brummond erreichte die Stelle, wo es gelegen hatte, und sprang, aber kam nicht hoch genug und stürzte in einer Staubwolke zurück zu Boden. Die beiden Neuankömmlinge kamen mit fuchtelnden Armen angeeilt.
»Seien Sie kein Narr, Jonas!« rief Professor Bagwalter, die Hände um den Mund gewölbt. »Es gibt überhaupt keinen Grund …« Dann war seine Stimme nicht mehr zu hören, da das Luftschiff rasch an Höhe gewann. Paul wandte seine Augen nach oben. Vaala, die bereits die zackige Bergkette überflog, war nur noch ein Stecknadelkopf am Horizont.
Das Lager war bald hinter ihnen entschwunden. Das Schiff rüttelte und schlingerte, während Paul die Anzeigen zu lesen versuchte, und rollte dann abrupt auf die Seite. Gally rutschte über den gebohnerten Boden des Cockpits und rettete sich nur dadurch, daß er sich im letzten Moment an Pauls Bein festklammerte. Mit Mühe und Not richtete Paul das Schiff einigermaßen wieder auf, aber es war nicht stabil, und der stärkere Wind über den Bergen schüttelte sie tüchtig durch.
Vaala war jetzt ein wenig näher. Paul empfand eine kurze Befriedigung. Sie würden sie einholen und dann zu dritt fliehen. Gemeinsam würden sie alle Rätsel lösen.
»Vaala!«
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