Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
rief er, aber sie war noch zu weit entfernt, um ihn zu hören.
Als sie über den Kamm der Berge kamen, drückte eine jähe Bö sie abermals auf die Seite. Trotz Pauls verzweifelten Gegensteuerns sackte die Nase des Schiffes ab. Die nächste Bö wirbelte sie herum, und er verlor die Kontrolle. Entsetzt schreiend klammerte Gally sich an sein Bein. Paul zog mit aller Kraft am Steuer, bis seine Gelenke vor Schmerz brannten, aber das Schiff trudelte weiter nach unten. Zuerst sprang ihnen der Boden entgegen, dann fielen sie in den leeren Luftraum, dann kam ihnen wieder der Boden entgegengerast. In kurzen, zerhackten Bildern sah Paul, wie der Große Kanal sich unter ihnen wie eine dunkle Schlange wand, als ihm etwas gegen den Kopf knallte und die Welt in Funken zerstob.
Kapitel
Lichtlose Räume
NETFEED/MUSIK:
Gefährliche Schwingungen verboten
(Bild: junge Frau im Krankenhausbett unter einem Überdruckzelt)
Off-Stimme: Nach einer Serie von gesundheitlichen Schäden und einem Todesfall während der jüngsten Tournee der Powerwig-Band Will You Still Love Me When My Head Comes Off haben Veranstalter die Verwendung von Tonanlagen untersagt, die Töne außerhalb des menschlichen Hörbereichs erzeugen. Dem Verbot gingen Erklärungen amerikanischer und europäischer Versicherungsgesellschaften voraus, sie würden keine Veranstaltungen mehr versichern, bei denen »gefährliche Schwingungen« eingesetzt werden.
(Bild: Clip aus »Your Blazing Face Is My Burning Heart«)
WYSLMWMHCO und andere Powerwig-Gruppen haben ihrerseits gedroht, die USA und Europa wenn nötig zu boykottieren, und erklärt, sie ließen sich nicht von Bürokraten in ihrer künstlerischen Ausdrucksfreiheit beschneiden.
> Renie konnte es nicht leiden, wenn ihr Vater schmollte, aber dieses eine Mal dachte sie überhaupt nicht daran, ihm gut zuzureden. »Papa, ich muß das tun. Es ist für Stephen. Ist dir das etwa nicht wichtig?«
Long Joseph rieb sich mit seinen knotigen Händen über das Gesicht. »Klar is es wichtig, Mädel. Erzähl du mir nich, ich würd mich nich um meinen Jungen kümmern. Aber dieser ganze Computerzirkus is doch Blödsinn. Meinst du, du hilfst deinem Bruder mit irgend so ’nem Spiel?«
»Es ist kein Spiel. Ich wünschte, es wäre eins.« Sie besah sich prüfend das Gesicht ihres Vaters. Irgend etwas an ihm war anders, aber sie kam nicht darauf, was es war. »Sorgst du dich eigentlich überhaupt um mich?«
Er schnaubte. »Was? Ich soll mich sorgen, daß du in ’ner Badewanne voll Gelee ertrinkst? Hab ich dir schon gesagt, was ich davon halte.«
»Papa, es kann sein, daß ich tagelang online bin – vielleicht eine ganze Woche. Du könntest es mir ein bißchen leichter machen.« Ihr Geduldsfaden wurde langsam dünn. Warum versuchte sie überhaupt mit ihm zu reden? Was kam dabei je heraus als Erbitterung und Herzschmerzen?
»Mich um dich sorgen.« Ihr Vater zog ein finsteres Gesicht und blickte auf den Boden. »Ich sorg mich ständig um dich. Ich sorg mich um dich, seit du auf der Welt bist. Hab geschuftet bis zum Umfallen, daß du’n Zuhause hast, was zu beißen. Wenn du krank warst, hab ich den Arzt bezahlt. Deine Mama und ich ham nächtelang an deinem Bett gesessen und gebetet, als du das schlimme Fieber hattest.«
Auf einmal wußte sie, was anders war. Seine Augen waren klar, seine Aussprache nicht nuschelig. Die Soldaten, die diese unterirdische Basis bewohnt hatten, hatten bei ihrem Abzug alles Tragbare, das einen gewissen Wert besaß, mitgenommen, und dazu hatten sämtliche Alkoholvorräte gehört. Ihr Vater hatte sich das Bier, das er auf dem Herweg gekauft hatte, so sparsam eingeteilt, wie er konnte, aber das letzte hatte er vorgestern ausgetrunken. Kein Wunder, daß er schlechter Laune war.
»Ich weiß, daß du hart gearbeitet hast, Papa. Und jetzt bin ich an der Reihe, für Stephen zu tun, was ich kann. Deshalb mach es mir bitte nicht schwerer als unbedingt nötig.«
Er wandte sich ihr schließlich zu, die Augen rotgerändert, die Mundwinkel mürrisch herabgezogen. »Ich mach ja gar nichts. Hier gibt’s für ’nen Mann sowieso nix zu machen. Und du – bring dich nich um bei der Sache, Mädel. Laß dir nicht das Gehirn zerbrutzeln oder sonst so’n Blödsinn. Und wenn doch, dann gib nich mir die Schuld.«
Und das, dachte Renie, war wohl das Äußerste, was sie als Liebeserklärung je von ihm zu erwarten hatte.
»Ich werd versuchen, mir nicht das Gehirn zerbrutzeln zu lassen, Papa. Weiß Gott, das werd
Weitere Kostenlose Bücher