Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
des Benutzers beeinflussen, so daß ihr euch etwas aussuchen solltet, was euch angenehm ist.«
»Und bloß nicht zu auffällig«, ergänzte Singh.
»Wie können wir das machen? In wessen System sind wir überhaupt?«
Martine gab keine Antwort, aber ein kleiner holographischer Würfel tauchte aus der Dunkelheit vor Renie auf. Sie stellte fest, daß sie darin mit den normalen VR-Gesten ein Bild konstruieren konnte.
»Beeilt euch«, knurrte Singh. »In ungefähr einer Viertelstunde werde ich ein Fenster bekommen, und das will ich nicht verpassen.«
Renie sinnierte. Wenn dieses Otherland-Netzwerk im Grunde ein riesengroßer VR-Tummelplatz für die Reichen und Mächtigen war, wie Singh zu meinen schien, dann würde ein Sim, der zu unpersönlich, zu billig war, die falsche Art von Aufsehen erregen. Dieses eine Mal wollte sie sich etwas Hübsches gönnen.
Sie überlegte, ob es am besten wäre, sich als Mann auszustaffieren. Schließlich hatten sich die Leitrüden im Menschenrudel in den letzten zweitausend Jahren nicht viel verändert, und nach ihrer Erfahrung hatten sehr wenige davon eine besonders hohe Meinung von Frauen. Doch andererseits war vielleicht gerade das ein Grund dafür, sich als nichts anderes auszugeben, als sie war. Wenn für den üblichen machtbesessenen, multizillionenschweren Möchtegernweltbeherrscher eine Frau, zumal eine junge afrikanische Frau kein Wesen war, dem man Achtung entgegenbrachte, dann konnte sie sich vielleicht gar nichts Besseres einfallen lassen, um unterschätzt zu werden, als sie selbst zu sein.
»Ich hatte heute nacht einen Traum.« !Xabbus körperlose Stimme versetzte ihr einen Schreck. »Einen sehr sonderbaren Traum über Großvater Mantis und den Allverschlinger.«
»Wie bitte?« Sie wählte das Standardgerüst für eine Menschenfrau, und es erschien unpersönlich wie eine Drahtskulptur in dem Würfel.
»Er bezieht sich auf eine Geschichte, die ich als junger Mann hörte, eine sehr wichtige Geschichte meines Volkes.«
Renie spürte, wie sie die Stirn runzelte, während sie sich auf die Gestaltung des Sims zu konzentrieren versuchte. Sie gab ihm ihre dunkle Haut und ihr kurz geschorenes Haar, dann zog sie ihn in die Länge, bis er ihrer kleinbusigen, langgliedrigen Statur ähnlicher sah. »Meinst du, du könntest ihn mir später erzählen, !Xabbu ? Ich versuche, mir einen Sim zu machen. Mußt du das nicht auch tun?«
»Deshalb kam mir der Traum wichtig vor. Großvater Mantis sprach zu mir im Traum – zu mir, Renie. Er sagte: ›Es ist an der Zeit, daß alle ersten Menschen sich zusammenschließen.‹ Aber entschuldige bitte. Ich mache es dir schwer. Ich werde dich in Ruhe lassen.«
»Ich versuche mich zu konzentrieren, !Xabbu . Erzähl ihn mir bitte später.«
Sie vergrößerte das Gesicht und ging rasch eine Reihe von Formen durch, bis sie eine ihr ähnliche gefunden hatte. Nasen, Augen und Münder zogen an ihr vorbei wie Anwärter darauf, Aschenputtels goldene Schuhe zu sein, und wurden samt und sonders verworfen, bis sie eine Gesichtskombination gefunden hatte, mit der sie sich nicht wie eine Hochstaplerin vorkam. Renie konnte Leute nicht leiden, die ihre Sims unendlich viel attraktiver machten, als sie in Wirklichkeit selber waren. Es erschien ihr als Schwäche, als mangelnde Bereitschaft, mit dem zu leben, was man bekommen hatte.
Sie besah sich das fertige Produkt, prüfte das entspannte Gesicht. Beim Anblick dieses Körpers, den man bei oberflächlicher Betrachtung für ihre Leiche hätte halten können, kamen ihr Zweifel. Es war unsinnig, zu sehr ein Selbstporträt daraus zu machen. Die Leute, in deren System sie illegal eindringen wollten, zeichneten sich nicht durch Milde und Vergebung aus, wie sie selbst schon erfahren hatte. Warum ihnen etwaige Vergeltungsmaßnahmen erleichtern?
Renie verstärkte die Backenknochen und das Kinn und wählte eine längere, schmalere Nase. Sie gab den Augen einen Zug nach oben. Das war nicht sehr anders, ging ihr durch den Kopf, als wenn man mit einer Ankleidepuppe spielte. Das Endergebnis sah jetzt nur noch ein klein wenig wie sie aus und glich viel mehr einer Wüstenprinzessin aus einem Sand-und-Säbel-Film. Sie mußte über ihr Werk und über sich selbst grinsen – wer hatte hier Skrupel, einen Sim aufzumotzen?
Sie bekleidete ihren neuen Körper auf die zweckmäßigste Weise, die ihr einfiel, mit Jumpsuit und Stiefeln nach Pilotenart: Wenn die Simulation gut genug war, war die Eignung der Kleidung ein Faktor. Sie ging
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